Meine Zeit steht in Deinen Händen

Dr. Martin Fricke
von Dr. Martin Fricke, Pfarrer,
Synodalassessor im Ev. Kirchenkreis Düsseldorf

Ein Psalm Davids.

Meine Zeit steht in Deinen Händen.
Auf Dich, Herr, hoffe ich
und spreche: Du bist mein Gott!

Meine Zeit steht in Deinen Händen.
Errette mich von allem, was mich bedroht und verfolgt.
Lass Dein Antlitz leuchten über mir;
hilf mir durch Deine Güte!
Herr, lass mich nicht zuschanden werden;
denn ich rufe Dich an.

Meine Zeit steht in Deinen Händen.
Wie groß ist Deine Güte, Herr,
die Du denen bewahrst, die Dich achten,
und die Du denen erweist,
die auf Dich trauen!
Gelobt sei Gott, der Herr;
denn er hat mir seine wunderbare Güte erwiesen.
Seid getrost und unverzagt alle,
die Ihr auf Gott vertraut!

Meine Zeit steht in Deinen Händen.                          (Psalm 31,1.15-18.20.22.25)

„Nä, wat wor dat dann fröher en superjeile Zick. Mit Träne in d’r Auge loor ich manchmol zurück.“ Sie schauen etwas ratlos… Kölsche Tön der Gruppe Brings in Düsseldorf, ich verstehe! Dann nochmal auf hochdeutsch: „Nein, was war das doch früher für eine supergeile Zeit. Mit Tränen in den Augen blicke ich manchmal zurück.“

Das Schöne an den kölsche Karnevalsliedern ist, dass sie neben allem jecken Frohsinn eine leichte Melancholie durchzieht. Und melancholisch zu sein, haben wir allen Grund in diesem Jahr. Kein Straßenkarneval, nix mit Bützchen und Kamelle, und Sitzungskarneval steril und mit wenig Stimmung nur auf der Mattscheibe. „Nä, wat wor dat dann fröher en superjeile Zick. Mit Träne in d’r Auge loor ich manchmol zurück.“

Keine Zeit für Büttenreden also. Und für Büttenpredigten noch weniger. Eher, um wehmütig zurückzuschauen. Vielleicht auch nach vorne. Oder überhaupt einmal über die Zeit nachzudenken in diesen merkwürdigen Zeiten. Was ist sie überhaupt: die Zeit?

Einer der ersten und einer der bemerkenswerten, die sich diese Frage gestellt haben, war der große Kirchenvater Augustinus. Von 354 bis 430 führte er ein sehr bewegtes Leben. So hatte er beispielsweise eine resolute Mutter, die nicht nur versuchte, ihren Sohn für eine standesgemäße Ehe zu gewinnen (dies zu Lasten seiner langjährigen Freundin), sondern auch für den christlichen Glauben. Aber erst nach vielen geografischen und biografischen Umwegen wurde er Bischof; und zwar ein Bischof, der bis heute Wegweisendes über das Leben als Christ und über das Leben überhaupt geschrieben hat.

Augustinus suchte nach Erkenntnis, zuallererst nach Erkenntnis seiner selbst. Den langen Weg dieser Suche hat er in seinen berühmten Bekenntnissen, den Confessiones beschrieben. Und hier taucht sie auf, die Frage: „Was ist Zeit?“ (Conf. XI.14,17). Wir erfahren, so Augustinus, Zeit nur als flüchtiges Vergehen dessen, was wir erleben. In dem Moment, in dem wir etwas erleben, ist die Vergangenheit schon nicht mehr und die Zukunft noch nicht da. Strenggenommen, so Augustinus, erleben wir immer nur die Gegenwart. Und die kann ganz schön freudlos sein, vor allem, wenn wir sie an der verflogenen Vergangenheit messen. „Nä, wat wor dat dann fröher en superjeile Zick. Mit Träne in d’r Auge loor ich manchmol zurück.“

Andererseits können wir etwas nur bewusst erleben, wenn wir in unserem Erleben auf Bilder vergangener Eindrücke zurückgreifen und Bilder zukünftiger Eindrücke vorwegnehmen. Zeit ist deshalb für Augustinus die „Ausdehnung der Seele“: Unser ganzes Leben lang verbinden wir in unseren Seelen die Vergangenheit mit der Zukunft. Manchmal wird uns das besonders deutlich bewusst. Im Gottesdienst zum Beispiel: Er hebt uns aus dem stets gegenwärtigen Fluss der Zeit heraus. Im Gebet, in der Meditation, in der Feier der Liturgie, im Hören auf Gottes Wort stellen wir uns in die lange Geschichte des Ewigen mit uns und sprechen die Hoffnung auf seine Zukunft mit uns aus. An Tagen wie diesen mehr denn je…

Wie aber schaffen wir es, in der Fülle der Eindrücke und Bilder nicht zu zerfallen? Wie kommt in all´ dem so etwas wie der rote Faden unseres Ichs zustande? Was haben die Hochzeiten unseres Lebens mit seinen Brüchen zu tun, wie passen Verlust und Verzweiflung mit Freude und Glück zusammen? Bin ich heute derselbe wir vor einem Jahr, als ich mit Begeisterung auf dem Toleranzwagen der Religionen im Rosenmontagszug mitgefahren bin? Oder derselbe wie vor 40 Jahren, als ich mit klopfendem Herzen meine Klassenkameradin Annette zum Eisessen einlud? (Verrückt, mitten im bitterkalten Winter, aber ich sah keinen anderen Ausweg aus der Liebeskummerfalle…) Wie wird mein weiteres Leben verlaufen? Was wird es mit dem zu tun haben, was ich jetzt von mir weiß?

Wie schaffen wir es, in der Fülle der Eindrücke und Bilder, die die Zeit mit sich bringt, nicht unterzugehen? – Augustinus sagt: Es gibt nur einen festen Grund, auf dem unser Ich ruht und der uns und unsere Zeiterfahrung zusammenhält. Dieser feste Grund ist das Wissen um das Unvergängliche, das Ewige – das Wissen um Gott. Der Mensch in all´ seiner Unvollkommenheit und mit seinen Träumen ist wahrhaft Mensch im Gegenüber zu Gott. Vor Gott, dem wir unsere Schuld bekennen und den wir für alles, was er uns schenkt, loben, wird unser Leben in all´ seiner Fragmentarizität, in seiner Gebrochenheit zu einem erfüllten Leben. Denn Scheitern und Erfolg, bange Erwartungen und der Dank für alles Erreichte, die Antworten der Vergangenheit und die Fragen an die Zukunft haben in Gott einen gemeinsamen Fluchtpunkt.

Das ist allerdings keine fromme Gewissheit, mit der wir´s uns gut einrichten könnten in unserem Leben; nichts, worin wir uns ausruhen könnten. Für Augustinus bedeutete diese Erkenntnis eine lebenslange Suche. „Ruhelos ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir“, sagt er ganz zu Beginn seiner Confessiones (Conf. I.1,1). Ruhelos nach dem zu suchen, was sein Leben, was unser aller Leben und die Welt trägt und zusammenhält – das war sein Leben. Getrieben von der Sehnsucht nach Erkenntnis und gezogen von der Liebe dessen, der alle Erkenntnis in sich vereint – so hat er sein Leben verstanden.

Wahrscheinlich sind die wenigsten von uns vergleichbar große Geister wie Augustinus. Oder vielleicht sind wir es auch, aber es merkt ´mal wieder keiner. Man muss allerdings auch kein großer Geist sein, um immer wieder nach Zeichen des Ewigen zu suchen, in dessen Hände unsere Zeit aufgehoben ist. Im Guten wie im Bedrückenden. Denn von dieser Gewissheit immerhin war bei aller inneren Unruhe auch Augustin erfüllt: Dass unser Leben Ruhe findet in Gott.

Vielleicht ist dies die Zeit, dem mehr nachzuspüren, als sich dem üblicherweise angesagten karnevalistischen Frohsinn hinzugeben. Andererseits – man kann ja durchaus auch im Stillen fröhlich sein. Die Hände des Ewigen umgreifen beides, Fröhlichkeit und Melancholie.

Seien Sie behütet!

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