„Mitten in unserem Leben jenseitig“ – Zu Ralf Frischs Widerstand und Versuchung. Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor.

von Dr. Martin Fricke

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar, –  
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Wer spürt in diesen Worten Dietrich Bonhoeffers, geschrieben im Dezember 1944 in der Gestapo-Haft in Berlin Tegel, nicht eine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit und Bewahrung? Vielleicht haben wir in unseren Gottesdiensten zum Jahreswechsel ihre geistlichen Vertonungen (zu finden unter den Nummern 65 und 652 im Evangelischen Gesangbuch) diesmal besonders eindringlich gesungen, scheinen die Krisen unserer Zeit doch die Grundfesten unseres Welt- und Selbstbewusstseins zu erschüttern. Bonhoeffers Sehnsucht – oder ist es eine Gewissheit? – richtet sich auf einen guten Gott, der alles, unsere gesamte Wirklichkeit, umgreift. Und der eben dies tut und tun kann, weil er nicht in der Welt, in der wir leben, nicht in ihren Krisen, nicht in unseren Erschütterungen aufgeht, sondern der Welt gegenüber transzendent, jenseitig ist und bleibt.

Dietrich Bonhoeffers gesamte Theologie, so fragmentarisch und voller vielfältiger inspirierender Neuansätze zugleich sie ist, kreist um diese Betonung der alles bestimmenden Jenseitigkeit Gottes. Denn nur durch lässt sich die Welt als eine Wirklichkeit denken (und glauben!): eben nicht zersplittert in einen „geistlichen“ Bereich der religiösen Dinge und einen „weltlichen“ Verfügungsbereich des Menschen. Die Menschwerdung in Jesus von Nazareth hebt die Transzendenz des Ewigen nicht auf, sondern hervor. Denn von uns aus können wir kein gelingendes Verhältnis zu Christus aufbauen, schon gar kein „religiöses“. Er ist es, der dieses Verhältnis erwirkt, uns gewissermaßen zu sich zieht, indem er uns zur Nachfolge im Glauben und im Leben, in Wort und Tat ruft. Christus ist das bestimmende Subjekt der einen, geistlichen wie weltlichen Wirklichkeit.

Bonhoeffers Betonung der Transzendenz und Unverfügbarkeit Gottes ist also zugleich ein vehementes Plädoyer gegen einen Rückzug von Glauben und Kirche in eine irgendwie religiös-frömmelnde Sonderwirklichkeit. Der Ewige hat eben nicht die Religion, sondern die Welt erschaffen. Auf dieser Folie hat man seit Jahrzehnten sein Programm eines „religionslosen Christentums“ interpretiert. Bonhoeffer skizziert es in seinen 1951 unter dem Titel Widerstand und Ergebung veröffentlichen Briefen aus der Gefängnishaft, in denen sich auch das Gedicht „Von guten Mächten findet“. Die Menschen der Gegenwart, mündig und selbstbestimmt, können, so Bonhoeffer, „nicht mehr religiös sein“. Folglich gehen wir „einer völlig religionslosen Zeit“ entgegen, in der es so zu leben gilt, als ob es Gott nicht gäbe. Aber eben, ohne den Gott der „guten Mächte“ aufzugeben, der „mitten in unserem Leben jenseitig“ sei. Diese „Diesseitigkeit des Christentums“ verwirklicht sich nach Bonhoeffer theologisch in einer Übertragung traditioneller religiöser Begrifflichkeiten in die säkulare Sprache unserer Zeit, ekklesiologisch in einer „Kirche für andere“.

Folgt man dem Nürnberger Theologen Ralf Frisch, so hat Bonhoeffers strenges Konzept der Transzendenz Gottes in den Gefängnisbriefen allerdings buchstäblich die Fassung verloren. Frisch, den Autor des wirklich lesenswerten Bestsellers Atheismus adieu. Warum das, was ist, nicht alles ist, kennt das Düsseldorfer Stadtakademiepublikum seit einer Diskussionsveranstaltung zur Kontroverse um den assistierten Suizid innerhalb und außerhalb der Kirche im Frühjahr 2021 (https://estadus.info/static/video/selbstbestimmt-sterben.mp4 ) als streitbaren, pointiert argumentierenden Gesprächspartner. In seinem neuen, mittlerweile in zweiter Auflage erschienenen Buch Widerstand und Versuchung. Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor behauptet er, mit seinem Aufruf zur „Diesseitigkeit des Christentums“ gebe Bonhoeffer den Glauben an den transzendenten, ganz anderen Gott auf. Mit fatalen Folgen für den christlichen Glauben, die Kirche und das Selbstverständnis des modernen Menschen überhaupt.

Bonhoeffers Thesen konsequent weitergedacht, so Frisch, entgleite dem Glauben nämlich sein Fundament: die Offenbarung. Die (Volks-)Kirche gehe in einer irgendwie „verchristlichten“ Welt auf. Der Mensch schließlich werde in einer Hybris bestärkt, die wir spätestens seit der Dialektik der Aufklärung zu relativieren gelernt haben müssten; er werde zudem säkularen oder pseudoreligiösen Ersatzreligionen ausgeliefert, da er, wie die Geschichte zeige, eben nicht religionslos sein könne.

Bonhoeffer war kein Heiliger, manches wird (kann!) er nicht zu Ende gedacht haben, und seine Zeitdiagnose mag nicht frei von Irrtümern gewesen sein. Das – zum Beispiel im Hinblick auf den Religionsbegriff – zu zeigen, ist ein Verdienst der Überlegungen von Ralf Frisch. Als spannend erscheint auch die Tatsache, dass er sie auf überaus kreative Weise anstellt: als Zusammenspiel nämlich aus theologischer Analyse und imaginierten Traumgesichten. Ob er Bonhoeffer damit jedoch vollständig gerecht wird, sei dahingestellt. Denn Frisch braut einen Punsch aus Bonhoeffers theologischem Ringen in der Zeit der Gefängnishaft, seinen poetischen Versuchen – siehe „Von guten Mächten“ – und diversen Spekulationen über sein elitäres Selbstbewusstsein, den er dann wie in einem chemischen Labor destilliert, filtriert und analysiert. Nun, alle Ingredienzien sind in Widerstand und Ergebung durchaus vorhanden, allerdings verkommen sie bei Frisch zuweilen zu einer Karikatur, in der man Textanalyse und Psychologisierung nicht mehr auseinanderhalten kann. „Hochformchristentum“ oder geistliches Heldentum beispielsweise mag in gewissen Phasen eine Erwartung Bonhoeffers an sich selbst und die Seinen gewesen sein; sie aber zum Grundsatz seiner Anthropologie resp. Ekklesiologie zu machen, ist Polemik mehr denn theologische Auseinandersetzung. In Frischs Konzept jedoch passt sie prima hinein, kann er „die Theologie“ der Gefängnisbriefe so doch schließlich in das nietzeanische Deuteschema vom „Überchristen“ einordnen.

Vielleicht liest er in Widerstand und Ergebung zu oft theologische Systematik, wo eigentlich Theologie im Fragment zu finden ist. Vielleicht betont er zu sehr den theologisch sauberen Vorrang des Indikativs vor dem Imperativ, wo das Leben Bonhoeffer zwingt, diesen Indikativ im Konjunktiv zu formulieren. Vielleicht übersieht er, dass nicht die Reflexion in der theologischen Studierstube, sondern die Primärerfahrung des Leidens es ist, die Bonhoeffer den transzendenten Gott mitten im diesseitigen Leben suchen lässt.

Möglicherweise, so meine These, hat Bonhoeffers theologisches Denken in der Gefängniszelle nicht die Fassung verloren, sondern eine neue Perspektive gewonnen: Neben die Entfaltung theologischer Richtigkeiten ist das Erleben der Fraglichkeit Gottes im Leiden getreten. Wenn er in einem seiner Briefe beispielsweise davon spricht, „das Diesseits“ dürfe „nicht vorzeitig aufgehoben werden“, bedeutet dies ja keineswegs, dass er nicht (mehr) mit der – erkenntnistheoretisch vorgängigen – Jenseitigkeit des Ewigen rechnet; wohl aber, dass es theologisch darum gehen muss, vom Erleben der Wirklichkeit ausgehend dieses Erleben in ein Verhältnis zum Gehalt der biblischen Überlieferungen zu setzen.

Wie wäre es, wenn die beiden oben genannten Perspektiven einander komplementär ergänzen? Dann müsste nicht länger in Alternativen wie „vertikale versus horizontale Transzendenz“ oder „Kirche als Gestalt versus Kirche, die sich an die Welt verliert“ gedacht werden; dann ließe sich vielmehr mitten in einem krisenhaften Leben von der Geborgenheit durch eine gute Macht singen, und die Kirche könnte in ihrer Lösung von frommen und volkskirchlichen Formen neu Gestalt gewinnen. Möglicherweise zeigen Frischs letztes Traumgesicht (mit Nietzsche und durch Nietzsche) und sein Epilog „Etsi Deus daretur“ eine ähnliche Richtung an. Allerdings bestreitet er, sie schon bei Bonhoeffer selbst finden zu können. Dabei richtet sich seine Kritik aber wohl eher gegen jene seiner Adepten, die die theologischen Fragmente von Widerstand und Ergebung tatsächlich einseitig zugunsten der zweiten Perspektive eines nur noch diesseitsfixierten Christentums auflösen.

Versteht man Frischs Buch als Einladung, Bonhoeffer in unserer Zeit mit ihm weiterzudenken, ist es wohltuend irritierend – und aktueller denn je. Denn dass eine krisengeschüttelte Welt ohne einen Transzendenzbezug mitten in der einen, das gesamte Diesseits umgreifenden Wirklichkeit nicht bestehen kann, spüren wir nicht nur zur Jahreswende. Allerdings mit Bonhoeffer, nicht gegen ihn.

Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Seien Sie behütet!

Martin Fricke.

Widerstand und Versuchung. Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor von Ralf Frisch ist 2022 in zweiter Auflage im Theologischen Verlag Zürich erschienen.

Dietrich Bonhoeffers Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft ist in seiner Werkausgabe zugänglich: Dietrich Bonhoeffer Werke Bd 8, hg. v. Christian Gremmels, Eberhard Bethge und Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ise Tödt, Gütersloh 1998.

Die Zitate in diesem Beitrag sind diesen Werken entnommen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert