Nathan der Weise am Schachbrett?

von Harald Steffes

Zum 250. Geburtstag eines Skandals

Die Philosophiegeschichte des 18. Jahrhunderts ist reich an finsteren Gestalten. Speziell im Vorfeld und Umfeld der französischen Revolution hat sich mancher Denker doch sehr desavouiert. Dahingegen ist Johann Caspar Lavater (1741-1801) ein wahres Genie der Freundschaft. Über 60.000 Briefe im Nachlass des Schweizer Pfarrers sprechen eine deutliche Sprache. Und doch ist er der Urheber eines der großen Skandale des Jahrhunderts.

Aber beginnen wir vorne: Wer ist eigentlich Moses Mendelssohn? Mancher wird sagen: der Begründer der jüdischen Aufklärungsphilosophie. Viele werden sagen: er ist Lessings Vorbild für Nathan den Weisen. Mendelssohn und Nathan sind beides Kaufleute jüdischer Herkunft, die für ihre Weisheit gerühmt werden. An der Wahrheit des eigenen angestammten Glaubens halten beide fest und zeigen dennoch eine Offenheit für andere Wahrheiten.

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Aber Mendelssohn (1729-1786) ist nicht nur Vorbild einer literarischen Figur seines Freundes Lessing. Er ist vor allem selbst Autor philosophischer Schriften. Aus seiner Feder stammt unter anderem „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ (1767). Womöglich ist es das wirkungsreichste Buch in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Höchstwahrscheinlich aber das meistverkaufte. Mendelssohn übersetzt rund ein Drittel von Platons Dialog „Phaidon“ ins Deutsche. Hier erläutert Sokrates, dass der Philosoph keine Angst vor dem Tod haben muss. Einen weiteren großen Teil des antiken Textes gibt Mendelssohn sehr frei wieder. Und schließlich fügt er eigene Überlegungen im Horizont der zeitgenössischen Gedankenwelt zum Thema Unsterblichkeit und Seelenwanderung bei. Dieses Verfahren rechtfertigt er in der Vorrede.
Lavater nun interessiert sich einerseits für alles was mit Sokrates zu tun hat, zum anderen für das Thema der Unsterblichkeit. Und er hat eine herzliche Sympathie für Moses Mendelssohn, den er 1763 im Rahmen einer Reise in Berlin kennen gelernt hat. Insofern darf man voraussetzen, dass er Mendelssohn als Philosophen schätzte.
Als Lavater 1769 Charles Bonnets „Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum“ übersetzt, muss er an Mendelssohn und dessen philosophischen Verstand denken. Lavater widmet Mendelssohn diese Übersetzung und äußert eine Bitte, die man wohl interpretieren muss als Wunsch bzw. Aufforderung, entweder das Christentum zu widerlegen oder die Konsequenz aus der Unwiderleglichkeit zu ziehen. Unter Umständen wäre damit verbunden: sich taufen zu lassen. Lavater schreibt:

Ich weiß die Hochachtung, die mir Ihre fürtreflichen Schriften und Ihr noch fürtreflicherer Charakter, eines Israeliten, in welchem kein Falsch ist, gegen Sie eingeflößt haben, nicht besser auszudrücken, und das Vergnügen, das ich vor einigen Jahren in Ihrem liebens- würdigen Umgange genossen, nicht besser zu vergelten, als wenn ich Ihnen die beßte philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum, die mir bekannt ist, zueigne.

Ich kenne Ihre tiefen Einsichten, Ihre standhafte Wahrheitsliebe, Ihre unbestechliche Unpartheylichkeit, Ihre zärtliche Achtung für Philosophie überhaupt, und die Bonnetischen Schriften besonders: Und unvergeßlich ist mir jene sanfte Bescheidenheit, mit welcher Sie, bey aller Ihrer Entferntheit von dem Christenthum, dasselbe beurtheilen; und die philosophische Achtung, die Sie in einer der glücklichsten Stunden meines Lebens über den moralischen Charakter seines Stifters bezeugt haben; so unvergeßlich und dabey so wichtig, daß ich es wagen darf, Sie zu bitten, Sie vor dem GOtte der Wahrheit, Ihrem und meinem Schöpfer und Vater zu bitten und zu beschwören: Nicht, diese Schrift mit philosophischer Unpartheylichkeit zu lesen; denn das werden Sie gewiß, ohne meine Bitten, sonst thun: Sondern, dieselbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christenthums unterstützt sind, nicht richtig finden: Dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun, was Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie tun heissen; – was Socrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen und unwiderleglich gefunden hätte.
GOtt lasse noch viel Wahrheit und Tugend durch Sie ausgebreitet werden; lasse Sie alle das Gute erfahren, das Ihnen mein ganzes Herz anwünscht.“
Zürich, den 25sten des Augusts 1769.

Johann Caspar Lavater

Man zuckt zusammen. Hat Lavater hier ernsthaft die Taktlosigkeit besessen, einen  aufgeklärten und ihm persönlich bekannten Juden zum Religionswechsel aufzufordern? Glaubt er vielleicht wirklich, Mendelssohn damit einen philosophischen Gefallen zu tun?
Wer genau liest, wird auf den Gedanken kommen, dass es hier möglicherweise gar nicht um die Zumutung der Konversion geht. Von wem hätte sich Sokrates zum Beispiel taufen lassen  sollen? Geht es vielleicht darum, dass sich Lavater von seinem Mendelssohn/Sokrates eine Replik wünscht?
Wie dem auch sei. In der Öffentlichkeit war ein Skandal geboren. Sehr schnell war klar: wenn es hier einen Vermittler gibt, dann Lessing, der mit beiden Protagonisten im freundschaftlichen Kontakt steht. Ausdruck des vor allem in den Kreisen der Aufklärung verbreiteten Wunsches nach Vermittlung ist ein späteres Gemälde Oppenheims, das auch zur Vorlage eines Stiches diente. 

Ölgemälde Moritz Daniel Oppenheim (1800 – 1882)

Im Hintergrund: eine Frau. Rollenbilder des 18. und 19. Jahrhunderts sind hier nicht unser Thema. Im Mittelpunkt des Bildes findet sich unschwer zu identifizieren Lessing, der quasi wie ein Schiedsrichter fungiert. Im Vordergrund: der jüdische Denker und der Schweizer Pfarrer bei einer Partie Schach. Leider hat es in natura diese Dreierkonstellation leibhaftig nie gegeben. Lavater, Lessing und Moses Mendelssohn haben zu dritt weder miteinander Schach gespielt noch ein klärendes Gespräch geführt.
Von Mendelssohns Antwort an Lavater wird in 14 Tagen ausführlich zu reden sein. Schon heute sei betont, dass aus dieser Kontroverse einiges zu lernen war, wie wir zwei Briefstellen aus Mendelssohns Feder entnehmen können:

Da die Menschen alle von ihrem Schöpfer zur ewigen Glückseligkeit bestimmt sind, so kann eine ausschließende Religion nicht die wahre sein. Diesen Satz getraue ich mir als Kriterium der Wahrheit in Religionssachen anzugeben.

Mendelssohn im Januar 1770 an den Erbprinzen von Braunschweig

In welcher glückseligen Welt würden wir leben, wenn alle Menschen die Wahrheiten annähmen und ausübten, die die besten Christen und die besten Juden gemeinsam haben!

Mendelssohn an Bonnet 9. Februar 1770

Gedenktafel für Mendelssohn in Berlin Mitte.jpg

Fortsetzung folgt am 17. November

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