
von Dr. Martin Fricke, Synodalassessor, Evangelischer Kirchenkreis Düsseldorf
Mein Lieblings-T-Shirt, als ich ungefähr acht Jahre alt war, schmückte das Konterfei von Günter Netzer. Er war der Held meiner Jugend. Und das nicht nur wegen seiner Fußballkunst. Ich bewunderte seien Mut, sich im Pokalfinale gegen Köln selbst einzuwechseln (und prompt das entscheidende Tor zu schießen); die schicken Autos, die er fuhr; sein Aussehen, das damals gar nicht Fußballer-like war (die langen blonden Haare…); die kleinen Skandalgeschichten, die, weil ich Knirps sie kaum verstand, ihn nur noch interessanter machten. Da spielte nicht ‘mal eine Rolle, dass er für den falschen Verein kickte. Immerhin wechselte er später von den Gladbacher Fohlen zu den Königlichen von Real Madrid. Das war zwar nur unwesentlich besser, aber wenigstens standesgemäß; nannten seine Mitspieler ihn doch für gewöhnlich den „King“.

Das T-Shirt habe ich schon lange nicht mehr. Aber neulich bin ich dem Idol meiner Jugend wieder begegnet. Im Deutschen Fußballmuseum zu Dortmund ist zurzeit die wunderbare Sonderausstellung NETZER – DIE SIEBZIGERJAHRE zu sehen. Die Schau zeigt, dass Netzer weit mehr gewesen ist als „der erste Popstar des deutschen Fußballs“. Seine Zeitgenossen machten ihn zur Ikone einer neuen Epoche: in der Mode, in der Kunst, in Politik und Gesellschaft. „Seine Pässe waren das fußballerische Pendant zur APO“, konnte man damals lesen. Oder: „Brandts neue Friedenspolitik trug die Züge des kühnen Geistes von Günter Netzer.“

Überhöhungen dieser Art mag der Discotheken- und Modelabelbesitzer durch seine Extravaganz Vorschub geleistet haben. Beispiel gefällig? „Sag dem Trainer, dass ich mich von ihm erholen muss“, soll er einmal dem Gladbacher Meistertrainer Hennes Weisweiler ausgerichtet haben. Natürlich nicht persönlich, sondern über seinen treuen Adlatus Berti Vogts.

Netzer selbst hat allerdings immer wieder beteuert, dass er in erster Linie Fußball spielen wollte. Er nahm sich die Freiheit, den Fußball so zu interpretieren, wie er ihn empfand: als eine Symbiose aus seinem Charakter und den Herausforderungen eines Matches. Diese Freiheit gab seinem Spiel eine Schönheit, die für sich stand. Sportlich ließ ihn das nicht zu einem der ganz Großen seiner Zunft werden (er absolvierte nur 37 Länderspiele), zweifellos aber machte es ihn einzigartig. Er fühlte Fußball. Wenn er mit raumgreifenden Schritten den Ball eng am Fuß führend durch das Mittelfeld schwebte, traumhafte Pässe schlug oder spektakuläre Treffer erzielte, tat er das nicht um des Geldes, nicht um des Ruhms, nicht einmal um des Erfolges, sondern allein um seines Spieles selbst willen. Zumindest schien so, wenn man ihn in besonders glanzvollen Momenten kicken sah. In einer Zeit, in der alles verzweckt und nur das positiv angenommen wird, was einen Nutzen bringt, ist Günter Netzer darum immer noch ein Held für mich. Er, der mittlerweile ergraute, der einen in seinen Sternstunden die Faszination des Fußballs mitfühlen ließ wie kein anderer.