No truth without Ruth – Keine Wahrheit ohne Ruth

von Dr. Gabriela Köster

Wenn nicht gerade Ihr Fernseher defekt ist, wissen Sie vermutlich, welche Ruth mit diesem Slogan gemeint ist: Ruth Bader Ginsburg, eine der neun obersten Richter*innen der USA, von denen aber nur drei Richterinnen sind und doppelt so viele Männer. Von den Amerikaner*innen wird sie hochgeschätzt. Man nennt sie liebevoll „RBG“ und seit einiger Zeit auch  „The Notorious RBG“ nach dem Vorbild des „Notorious B.I.G.“, einem weltbekannten Rapp-Musiker, der sich einmal mit einer Plastikkrone fotografieren ließ. Seitdem gibt es T-Shirts, Tassen und etliche andere Fan-Artikel bis hin zu Tattoos von Ruth Bader Ginsburg, auf denen nicht mehr nur ihre berühmten Initialen, sondern eben auch ihr Konterfei mit der Krone auf dem Kopf dargestellt wird. Das kann man für übertrieben halten, muss man aber nicht.

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Ich bin auf RBG erst nach Ihrem Tod am 18. September 2020 aufmerksam geworden. In meinen Augen hat sie wirklich etwas von einer Königin. Aus dem Jahr 1984 gibt es sogar ein Zitat von ihr: „Wäre ich Königin …“ und dann folgt ein Förderplan mit den drei Punkten: gleiche Bildungschancen, gute Ganztagsbetreuung vom Kleinkindalter an und Anreize für Männer, sich die Kinderbetreuung gerecht mit den Frauen zu teilen. Humor hatte die Frau also auch. (Sehen Sie sich ein paar Interviews mit ihr an, dann werden Sie sehen: Ihr Humor ist köstlich!) Innerhalb des Richter-Gremiums des Supreme Court der Vereinigten Staaten war sie tatsächlich so etwas wie eine Königin und hatte diesen Thron aus eigener Kraft bestiegen – privat unermüdlich unterstützt von ihrem Mann.

Aber der Reihe nach: Ruth Bader wurde 1933 in Brooklyn/New York in einer jüdischen Familie geboren. Ihre Eltern waren aus Polen bzw. der Ukraine eingewandert und legten, obwohl selbst keine Akademiker, großen Wert auf die Ausbildung ihrer Tochter. Ihre Mutter Celia Bader starb einen Tag, bevor ihre Tochter ihren Schulabschluss an der Highschool erwarb. Celia Bader prägte RBG lebenslang. Sie hatte immer zu ihr gesagt: „Sei eine Dame. Und: Sei unabhängig. ‚Sei eine Dame‘ hieß, sich nicht von Gefühlen leiten zu lassen, die einen auslaugen und einem die Kraft rauben. Zorn etwa. Einfach tief durchatmen und ruhig sagen, was man zu sagen hat.“

Bei einer Rede legte RBG den mütterlichen Rat einmal so aus: „Was meinte sie mit: Sei eine Dame? Nun, sie meinte damit ganz sicher nicht, dass man nachmittags um vier den Tee zu servieren hat. Sie meinte damit, eine Dame verschwendet ihre Zeit nicht an unnütze Gefühle. Eine Dame gibt keine schnippischen Antworten im Zorn. Sie ist nicht neidisch. Sie ist eine Dame – das heißt, wenn ein unfreundliches Wort fällt, tut sie, als hätte sie es nicht gehört.“
Vom feministischen Standpunkt in diesem Jahrhundert und auf diesem Kontinent kann ich RBG nicht uneingeschränkt zustimmen. Aber der Ausspruch ihrer Mutter stammt aus den 1940er Jahren der USA und nicht aus diesem Jahrhundert und unserem Kontinent. Seitdem hat sich viel in der Welt verändert und an der Durchsetzung der Frauenrechte in den USA hatte gerade RBG maßgeblichen Anteil. Sie hat durch ihre anwaltliche Arbeit und in den 27 Jahren beim Supreme Court viele strukturelle Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen – und Männern – und Diskriminierung jeglicher Art benannt und dagegen gekämpft. Sie betrachtete sich selbst als Feministin, war eine unermüdliche Kämpferin gegen Diskriminierung und eine grundsätzliche Verfechterin des Rechts auf Abtreibung, um Schwangere vor den gesundheitsgefährdenden oder auch für die Frau lebensgefährlichen illegalen Abtreibungen zu bewahren. Sie war für die rechtliche Gleichstellung und auch die Gleichbezahlung von Frauen und Männern und für das Recht auf Eheschließung für homosexuelle Paare. Von einem Präsidenten der Demokratischen Partei  (Bill Clinton) 1993 für den Obersten Gerichtshof nominiert und mit 96 zu 3 Stimmen bestätigt, gehört sie zu den zahlenmäßig stets unterlegenen Liberalen im Richter*innen-Gremium und vertrat oft die Meinung, die sich dann als Minderheitenmeinung erwies. Dann schrieb sie Kommentare und Sondermeinungen zu den ergangenen Urteilen und  sagte 2015 in einer Vorlesung : „Ich glaube, die meisten meiner Mindermeinungen werden irgendwann einmal Gesetz sein.“ Und 2009 bei einer anderen Rede: „Sosehr ich den Wert einstimmiger Entscheidungen schätze, wenn etwas Wichtiges auf dem Spiel steht, werde ich immer meine Stimme zur Gegenrede  (dissent) erheben.“  Das kam so oft vor, dass zu den RBG-Fan-Artikeln auch T-Shirts gehören  mit dem Aufdruck DISSENT.

Noch einmal zurück zu ihrer Lebensgeschichte:  An beiden Universitäten, an denen sie Jura studierte, war sie einer der Besten oder die Beste und als Frau in der absoluten Minderheit. In den 1940er Jahren studierten manche Frauen bestimmte Fächer hauptsächlich, weil die Universitäten mit ihrem enormen Männerüberschuss der perfekte Heiratsmarkt waren. Auch Ruth Baders Familie wünschte sich einen Ehemann für Ruth. Und den fand sie – nach zahlreichen Abendessen mit anderen Studenten – in Martin Ginsburg. „Marty war der erste Mann, vermutlich der einzige Mann, der sich je dafür interessiert hat, dass ich über ein Gehirn verfüge“, sagte sie in mehr als einem Interview. Wobei ich mir doch erlaube anzumerken, dass sie neben ihrer freien Verfügung über ein eigenes Gehirn auch eine ausgesprochen schöne Frau war und ihr Mann nicht blind. Die beiden bekamen bald eine  Tochter und zogen nach Oklahoma, wo Martin/Marty Ginsburg sehr erfolgreich als Steueranwalt arbeitete.
Selbst mit ihrem glänzenden in Harvard erworbenen Abschluss in Jura war es sehr schwierig für sie, eine Anstellung zu finden: Anwaltskanzleien diskriminierten damals  ganz unverhohlen Juden, Frauen und Mütter –  und RBG war alles drei.
Sie wurde dann doch Anwältin, bekam noch ein zweites Kind, wurde Richterin und schließlich eine der neun obersten Richter*innen der USA. Noch davor, als erste weibliche Professorin an der New Yorker Columbia Law School, begann sie sich in der Frauenbewegung zu engagieren, wurde 1972 Mitbegründerin des Women´s Rights Project und machte sich zusammen mit anderen Anwältinnen daran, mit Einzelfällen ein geschlechter-diskriminierendes Gesetz nach dem anderen zu kippen. Denn Gesetze, die auf Geschlechterstereotypen fußen, diskriminieren nicht nur Frauen, sondern auch Männer.
RBG war eine Feministin mit dem Anspruch zur Schaffung von Gerechtigkeit für Menschen als Individuen, misstrauisch gegenüber allen Verallgemeinerungen, wie Frauen oder Männer nun einmal seien. „Meine Lebenserfahrung sagt mir, das ist kein zuverlässiger Leitfaden zur Beurteilung einzelner Individuen.“

„Ich glaube, die einfachste Erklärung und eine, die den Grundgedanken (des Feminismus) recht treffend beschreibt, findet sich in einem Song von Marlo Thomas: „Free to Be You and Me“. Sei du selbst! Dass man als Mädchen alles werden kann – Ärztin, Anwältin, Stammesoberhaupt, was auch immer. Und als Junge genauso. Wenn ein Junge Lehrer werden möchte oder Krankenpfleger oder gerne mit Puppen spielt, dann soll er das tun. Feminismus ist die Überzeugung, dass wir alle unsere Talente, wo auch immer sie liegen mögen, völlig frei entfalten dürfen und uns nicht von willkürlichen gezogenen Grenzen einschränken lassen sollten – menschengemachten Grenzen wohlgemerkt, ganz gewiss nicht gottgegebenen.“

RBG war eine bemerkenswerte Frau, eine brillante Anwältin und Richterin, eine mutige Frauenrechtlerin und eine glückliche Mutter und Großmutter und angesichts ihres Lebenswerkes erstaunlich romantisch. „Ich hatte das unverschämte Glück, einen Mann geheiratet zu haben, der meine Arbeit für genauso wichtig hielt wie seine eigene. In den 1950er Jahren eine Seltenheit.“
Ruth und Marty Ginsburg waren trotz vieler schweren Zeiten (beide hatten mehrere Krebserkrankungen) und unendlich viel Arbeit ein liebevolles Ehepaar, 56 Jahre lang, bis zu Martys Tod 2010. Sie führten eine außergewöhnliche Partnerschaft und Ehe, teilten sich tatsächlich – und nicht nur vom Mann „gefühlt“ – gerecht die Familienarbeit und auch das Kochen, bis RBG erkannte, wie schlecht ihre Kochkünste waren und es aufgab. Wie mir scheint, ist das Kochen zum Glück für sehr viele Amerikaner*innen das einzige, was sie je aufgegeben hat. Es wäre vom heutigen Tag aus betrachtet aber auch ein großes Glück für die USA gewesen, wenn sie ihr Amt 2016 noch rechtzeitig aufgegeben hätte und Barak Obama und nicht sein Nachfolger, dessen Name nicht genannt werden soll, eine neue, eine demokratische Richterin hätte nominieren können. So wie es jetzt gekommen ist, ist die Mehrheit der republikanischen Richter*innen im Supreme Court auf Jahrzehnte zementiert. Was das für die USA  (Krankenversicherung, Todesstrafe, Waffengesetze, Amtsdauer des Präsidenten, Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung, nicht-weißer Hautfarbe, Frauen und andere Minderheiten) bedeutet, daran möchte ich nicht denken. RBG hatte gehofft, trotz Krebs noch leben zu dürfen, bis der Nachfolger von Obama nicht mehr im Amt wäre. Dieser letzte Wunsch ist leider nicht in Erfüllung gegangen. „No truth without Ruth“ könnte sich bald als wahrer erweisen als je zuvor.

Für weitere Einzelheiten über Lebenslauf und Lebensleistung von RBG empfehle ich die bei Youtube verfügbaren Videos mit Interviews, den Wikipedia-Artikel, das Buch auf dem Foto und  was man in den Mediatheken der TV-Sender seit ihrem Tod noch so findet. Den Film „RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit“ (2018) habe ich noch nicht gesehen. Er soll aber so berührend sein, dass ich ihn vermutlich in meiner Liste der alle zwei Jahre anzusehenden Filme aufnehmen werde.

Zum Schluss noch ein Zitat von Ruth Bader Ginsburg, das vielleicht am treffendsten zum Ausdruck bringt, mit welcher Haltung, Energie und Ausdauer diese wunderbare Frau gelebt und gewirkt hat:

„Anders als unsere Vorfahren beim Auszug aus Ägypten wird unser Weg wohl kaum von wundersamen Begebenheiten gesäumt sein. Bei dem Bemühen, den Sumpf aus Vorurteilen und Unterdrückung lahmzulegen, müssen wir uns auf die von uns selbst geschaffenen Werkzeuge verlassen – auf die Umsicht unserer Gesetze und den Anstand unserer Institutionen, auf unseren klaren Verstand und unser Mitgefühl. Und als ewiger Funke, den es weiterzugeben gilt, unsere eindringliche Erinnerung an das Böse, das wir aus dieser Welt zu vertreiben trachten. In unserem langen Kampf für eine gerechtere Welt zählt die Erinnerung zu unseren kostbarsten Gütern.“[1]


[1] Aus ihrer Rede am Holocaustgedenktag am 22. April 2004.

Alle obigen Zitate stammen aus dem Buch auf dem Foto, an dem im Original aber die Krone fehlt:

Ruth Bader Ginsburg. 300 Statements der berühmten Supreme-Court-Richterin, herausgegeben von Helena Hunt, 1. Auflage Oktober 2020, München  (amerikanische Originalausgabe 2018). Das Original der Plastikkrone vom 1997 verstorbenen Notorious B.I.G. hat vor zwei Wochen bei einer Auktion eine hohe fünfstellige Summe erzielt.

Ein Kommentar

  1. Britta Schwingel

    Vielen Dank für diesen aufmunternden himmelsleiter-Artikel – die Zeiten sind ja nicht immer so…

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