Rot

von Dr. Gabriela Köster

Zur Farbe Rot fällt mir Pfingsten ein. Ich war nicht in der Kirche, weil ich als leider bisher Ungeimpfte immer noch alle geschlossenen Räume meide, in denen ich nicht allein bin. Aber ich habe mir zwei Gottesdienste auf Youtube angeschaut. Und in beiden hatten die Akteure den Chorraum ihrer Kirche mit Scheinwerfern in ein rotes Licht getaucht. Im dem einen Fall die ganze Apsis zu einem einzigen gleichmäßig roten Bereich, im anderen Fall durch einzelne Scheinwerfer zungenförmig mehrere rote Bereiche mit unbeleuchteten Zwischenräumen.

Rot ist die liturgische Farbe für Pfingsten und die besonderen Festtage, die mit dem Wirken des Heiligen Geistes oder der Kirche zu tun haben: Gedenktage von Märtyrern, vorbildlichen Christen und Kirchenlehrerinnen, Reformationstag (31. Oktober), Konfirmationen, Ordinationen, Synodaltagungen und Allerheiligen (1. November). An diesen Tagen sind die Antependien (lat. „ante“ vor; „pendere“ hängen), also die beiden Stoffstücke, die an der Vorderseite des Altars und der Kanzel hängen, rot und mit Motiven bestickt, die zum jeweiligen Anlass passen. Oder ohne weiteres einfach nur rot, um der Phantasie der Betrachter:innen freien Lauf zu lassen.

Was fällt Ihnen spontan ein bei Rot? Vielleicht Feuer, Blut, Glut, Liebe, Eros, Gefahr, Festlichkeit? Bei meinem Enkelsohn wäre es sein Feuerwehrauto, seine kleine Ampel und sein Lieblingsessen Erdbeeren. Bei politisch Interessierten vielleicht das Überschreiten der roten Linie oder eine Partei, für die man allen Grund hat, Schwarz zu sehen. Für Medizinerinnen und Katastrophenhelfer vielleicht das Rote Kreuz oder der Rote Halbmond?

Ich habe nach einer Fortbildung vor einiger Zeit noch einmal abschnittsweise das Buch „Die Symbolik der Farben. Eine tiefenpsychologische Farbenlehre“ von Ingrid Riedel gelesen. Zu allen Farben gibt es dort Kapitel zu den Assoziationen, den psychischen Wirkungen, Urerfahrungen, Symbolik und den „Archetypen“. Bei manchen Farben gibt es auch noch ein Kapitel zu Volksbrauch und Aberglauben.

Die Skala von Rot umfasst mindestens drei Haupt-Rottöne: Zinnober, Karmin und Purpur. Zu allen Rottönen gibt es laut einer psycholoschen Forschungsgruppe unterschiedliche Assoziationen. „Zu Zinnober waren: Feuer, Eros, Gefahr und Nähe die häufigsten Assoziationen, zu Karmin: Blut, Kraft, Macht und Liebe; zu Purpur schließlich: Königtum, Recht, Gerechtigkeit und Abstand. Die Skala dieser Farbtöne bildet zugleich eine Skala von Gefühlstönen. Dem Zinnober entspricht zum Beispiel „Eros“ mit allem Feurig-Brennenden, das damit zusammenhängt; dem Karmin: warmes Gefühl und Liebe im weiteren Sinn bis zum Opfergedanken aus Liebe; dem Purpur entsprechend Abstand und Ehrfurcht vor dem Erhabenen. In Versuchen mit Studenten kamen immer wieder die Assoziationen „Blut“ und „Feuer“ an erster Stelle. Zu „Blut“ kamen als weitere Assoziationen: Körpergefühl, rote Haare, Lippenstift, Bordell, Wunden, Schmerz, Krieg, Schlachtung und Opfer … Unter den Blumen wurden vor allem Mohn und Rose genannt, unter den Früchten: Kirsche, Himbeere und Apfel“ (zitiert nach Riedel, Seite 17f.). Auf der Grundlage dieses Riedelzitats könnte man eine dicke kunstgeschichtliche Abhandlung verfassen über christliche Ikonografie und die Attribute der Christus- und Mariendarstellung von den Anfängen bis zum 21. Jahrhundert.

marcel-eberle- auf unsplash

Bei einer Museumsführung vor Jahren hat die Kunsthistorikerin den für mich damals überraschenden, aber seitdem x-fach verifizierten Satz gesagt: „Jedes gute Bild hat eine rote Stelle.“

Wenn ich etwas zu bestimmen hätte bei den liturgischen Farben, würde ich Rot auch zu Ostern als liturgische Farbe wählen statt Weiß. Wobei ich zugebe, dass auch für Weiß vieles spricht.

Nach Riedel ist Rot die „Lebensfarbe“ schlechthin und steht darum immer wieder im Zusammenhang mit alten religiösen Opfervorstellungen: Blutrituale und Tierschlachtungen. Blut als Sitz des Lebens ist eine alttestamentliche Vorstellung (vgl. Leviticus 17,14) und bei den Zeugen Jehovas als Sitz der Seele bis heute der Grund, warum sie selbst bei Lebensgefahr Bluttransfusionen ablehnen.

Im Neuen Testament gibt es die Vorstellung, dass wir Christ:innen „durch sein (Christi) Blut gerecht geworden sind“ (Römerbrief  5,9). Darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen, weil ich dann mehr Umwege und Schleifen drehen müsste als hier im Blog vertretbar sind. Das Wichtige an der Symbolik der Farbe Rot ist: „Es ist volles Leben darin enthalten. Das in Rot symbolisierte Opfer ist nicht ein asketisches Abrücken vom Leben, sondern ein volles Hineingehen, das verwandelt. Es geht um Lebenserhöhung durch Lebenshingabe. Das ist die Urerfahrung am Rot als Farbe des Blutes.“ (Riedel, 24f.)

Noch einmal zurück zu meinem liturgischen Vorschlag „Rot für Ostern“: Ostern geht es um Lebenshingabe und an Pfingsten um Lebenserhöhung. Beide Feste gehören zusammen. Genaugenommen ist Ostern erst zu Pfingsten zu Ende. Es gilt: Keine Lebenserhöhung ohne Hingabe und auch: Lebenserhöhung gibt es nicht im Singular. Mindestens zwei Menschen sind dafür nötig, besser noch mehr: ein Liebespaar, eine Oma mit ihrem Enkelkind, eine ganze Familie, eine Kirchengemeinde, eine Kirche, alle christlichen Kirchen gemeinsam.

Die ganz und gar in Rot getauchte Apsis der Kirche im ersten oben erwähnten Pfingstgottesdienst sah in meinen Augen ein bisschen aus wie eine Disko. Wo seit Generationen von Diskothekenbetreibern durch Verdunklung und den Rhythmus der Musik eine Anmutung von Höhle/Uterus mit Herzschlag erzeugt wird und die Menschen hingehen, um dort als Einzelwesen mit der Menge zu verschmelzen (oder auch einem besonders anziehenden Exemplar des anderen oder des gleichen Geschlechts). Pfingsten als Geburtstag der Kirche, Kirche als Gemeinschaft von Menschen, denen das Doppel- bzw. Dreifachgebot der Liebe (Gott und den anderen wie dich selbst, vgl. Matthäusevangelium 22 und Leviticus 19,18) so manches Wunder beschert: Sprachwunder, Hörwunder, das Wunder des gegenseitigen grenzüberschreitenden Verstehens.

Im zweiten Gottesdienst (Johanneskirche Düsseldorf) waren es – wie manche von Ihnen vermutlich selbst gesehen haben – mehrere einzelne Scheinwerfer mit rotem Licht. Diese Gestaltung hat mich am stärksten an das Symbol zum pfingstlichen Bibeltext erinnert: „Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer; und er setze sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. …  ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.“ (Apostelgeschichte 2) War es nun ein glücklicher Zufall oder vom Gottesdienstvorbereitungsteam beabsichtigt? Als die Kamera auf die in den Bänken corona-konform einzeln oder paarweise sitzende Gemeinde schwenkte, erschienen die ganz normalen Osram-warmweißen Wandbeleuchtungen mir als Zuschauerin (vgl. Apostelgeschichte 2,7) ebenfalls wie „Zungen zerteilt wie von Feuer“ über ihren Köpfen. Da war ich enttäuscht über mich selbst, dass ich nur zu Hause online teilgenommen hatte.

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