Sinfonieorchester gegen Artilleriebeschuss?

Schostakowitschs siebte Symphonie „Die Leningrader“ im Jahr 1941 und im Jahr 2022

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Dmitrij Schostakowitschs siebte Symphonie ist eine Legende, weil ihre Entstehung eng verbunden ist mit der Belagerung Leningrads (heute: St. Petersburg) durch die deutsche Armee im Jahr 1941. In einem Artikel der Prawda vom 29. März 1942 wurde Schostakowitsch mit den Worten zitiert: „Ich widme meine siebente Sinfonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, und Leningrad, meiner Heimatstadt …“

Der erste Satz der Sinfonie, abgeschlossen im August 1941, enthält ein später „Invasionsthema“ genannte Motiv, in dem viele Musikwissenschaftler:innen Motive der Melodie „Da geh ich zu Maxim“ aus Franz Lehárs OperetteDie lustige Witwe“  wiedererkennen wollen, die zu Hitlers Lieblingswerken gehörte. Das simple und harmlose Thema wird elfmal variiert, begleitet von einem leisem Trommelrhythmus, offensichtlich militärisch, der sich im Laufe der Wiederholungen zu furchtbarem Lärm steigert.

Am 14. September gab der Komponist anläßlich einer Liveübertragung eines anderen Konzertes aus der Leningrader Philharmonie bekannt, dass er „während direkt vor den Toren der Stadt erbittert gegen den Feind gekämpft wird“ den zweiten Satz einer geplanten Sinfonie abgeschlossen habe. „Ich erzähle das, damit alle wissen: die Gefahr, in der Leningrad schwebt, hat dessen pulsierendes Leben nicht zum Schweigen gebracht.“

Gleich am Anfang des dritten Satzes tauchte eine Orgel auf. Eine Orgel im stalinistischen Sinfonieorchester? Schostakowitsch hatte die Holzbläser so orchestriert, dass sie wie eine Orgel klangen, unüberhörbar Kirchenmusik, auch wenn die Orgel nur in westlichen Kirchen gebräuchlich ist, während in den orthodoxen Kirchen unbegleitet gesungen wird. Was damals in Russland niemand wissen konnte: Schostakowitsch zitierte ein Thema von Strawinsky aus dem Jahr 1930: Strawinsky, nicht weit von St. Petersburg geboren und aufgewachsen, aber nach der Oktoberrevolution nach Frankreich geflohen, hatte in seiner Psalmen-Sinfonie für Chor und Orchester orthodoxe Kirchengesänge aufgenommen, die Psalmen im Hinblick auf seine westlichen Hörer:innen allerdings lateinisch, nicht altkirchenslawisch singen lassen. Schostakowitschs Holzbläser zitierten nur die Melodie, doch bei Strawinsky sang der Chor auch die Worte des 150. Psalms „Alleluja. Laudate Dominum“.

Selbstverständlich konnte die Musik des Emigranten Strawinsky in Russland nicht aufgeführt werden. Schostakowitsch besaß aber eine Abschrift der Psalmensinfonie, die man erst nach seinem Tod entdeckte, 1930 von ihm selbst umgeschrieben für zwei Klaviere und in dieser Fassung gewiss auch nichtöffentlich gespielt. Warum zitierte Schostakowitsch, was niemand kannte? Eine heimliche Hommage an Strawinsky? Ich glaube nicht, dass Schostakowitsch ein heimliches religiöses Bekenntnis ablegen wollte („Halleluja! Lobt Gott in seinem Heiligtum, / lobt ihn in seiner mächtigen Feste!“)? Aber vielleicht wollte er doch Respekt gegenüber dem religiösen Bekenntnis anderer bekunden? Handelte es sich um eine Vorwegnahme von Stalins Teilduldung der russisch-orthodoxen Kirche, deren Zuspruch im „Großen Vaterländischen Krieg“ benötigt wurde? Ich bin mir nicht sicher, tendiere aber zu Respektbekundung: Strawinsky gegenüber heimlich, der russisch-orthodoxen Tradition gegenüber im Rahmen des gerade noch Erlaubten (wobei im stalinistischen Russland niemand genau wissen konnte, wo diese Grenze lag). Öffentlich hat sich Schostakowitsch mehrfach von Strawinsky distanziert, vermutlich, weil er musste, ein ängstlicher Mensch war, und nach öffentlichen Kampagnen gegen seine Musik seit 1936 Angst vor der Verhaftung hatte (und schon seine vierte Sinfonie in der Schublade behalten). Dennoch ist sein Respekt gegenüber der Psalmensinfonie zuverlässig bezeugt.

Anfang Oktober 1941 wurde Schostakowitsch gemeinsam mit anderen der Mitglieder der Nomenklatura, darunter die führenden Musiker der Philharmonie, aus Leningrad ausgeflogen. Er lebte einige Wochen in Moskau, wo sich die deutschen Truppen ebenfalls bedrohlich näherten, floh weiter nach Kuibyschew (heute Samara), wo er die Sinfonie vollendete. Der vierte Satz bildete nunmehr das buchstäbliche Finale einer Kriegssinfonie und behandelte den (zu diesem Zeitpunkt nur imaginierten) Sieg über die Deutschen in militärischem Fortissimo, manche meinen allerdings auch Ironie herauszuhören oder Trauer um die Toten.

Quelle: wikipedia art „Leningrad Blockade“ unter Verweis auf Commons RIA, Novosti archive, image 2153

Im März 1942 wurde die Sinfonie durch das ebenfalls ausgelagerte Moskauer Bolschoi-Orchester in Kuibyschew uraufgeführt. Im Dezember 1941 waren die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Nachdem die Siebte in der Sowjetunion ein großer Erfolg gewesen war, hatte Stalin das Interesse, sie auch beim bisherigen Klassenfeind und neuem Bündnispartner aufführen zu lassen. Dort rissen sich die großen Dirigenten um das Recht zur (westlichen) Erstaufführung; Toscanini und das NBC-Symphony Orchestra in New York machten das Rennen und brachten Schostakowitsch auf die Titelseite des Time Magazine, gezeigt mit Helm als ehrenamtlicher Feuerwehrmann bei der Verteidigung Leningrads: „Inmitten donnernder Bomben hörte er in Leningrad die Siegesakkorde“. In der Folgezeit wurde die Sinfonie von fast allen großen amerikanischen Orchestern gespielt, eine Art musikalisches Bündnis gegen Hitler.

Ein besonderer Coup gelang der sowjetischen Führung, als ein Sonderflugzeug die deutsche Luftblockade durchbrach, um die Partitur nach Leningrad zu bringen. Dort waren einige schon halb verhungerte Ersatzspieler der Philharmonie zurückgeblieben, man trommelte zusammen, wer sonst noch halbwegs ein Instrument spielten konnte, ließ gegen Extra-Rationen üben und führte das Werk in der völlig zerstörten Stadt auf, live übertragen von allen sowjetischen Rundfunksendern. Man soll den Granatdonner im Rundfunk gehört haben. Die sowjetische Propaganda machte daraus eine Hommage an den Widerstandswillen der von den deutschen Truppen eingeschlossenen hungernden Bevölkerung.

Heute wird die Zahl der zivilen Toten der Blockade oft auf 1,1 Millionen geschätzt, von denen etwa 90 % verhungerten. Verantwortlich dafür war einzig und allein die deutsche Kriegsführung. Dennoch kann man heute sehr wohl die kritische Frage stellen, ob nicht auch die sowjetische Kriegsführung durch einen rechtzeitigen Abzug der Zivilbevölkerung die Katastrophe hätte lindern können und die Opferzahlen verkleinern. Bestenfalls hat sie die militärische Lage falsch eingeschätzt; schlimmstenfalls waren ihr die – eigenen – Zivilisten weniger wichtig als die Soldaten.    

1979 brachte der in den Westen geflohene Musikwissenschaftler Solomon Volkov Memoiren Schostakowitschs heraus, die den im Westen oft als linientreuen Stalinisten gescholtenen öffentlichkeitsscheuen Komponisten als Revoluzzer gegen die Supermacht, als Don Quichote des künstlerischen Widerstandes darstellten. In den USA wurde das – mitten im Kalten Krieg – gern gelesen, in der Sowjetunion aber lautstark dementiert, auch von der Witwe und dem Sohn Schostakowitschs. Ich gehe davon aus, dass Volkov einige Gespräche mit Schostakowitsch geführt hat; insofern hat er nicht alles erfunden, allerdings wesentliche Teile. Diesen unechten Memoiren zufolge dachte Schostakowitsch im ersten Satz seiner Siebten an die Opfer des Stalinismus und der Nazis; eigentlich habe Schostakowitsch sagen wollen, Stalin habe Leningrad auf dem Gewissen, Hitler habe dem nur noch den letzten Rest gegeben. So geht das über viele Seiten. Das passte hervorragend in den Kalten Krieg, zu schön, um wahr zu sein. Auch in Deutschland wurde das sehr gern gelesen und geistert bis heute durch die populären Darstellungen von Wikipedia bis hin zu CD-Booklets. Es bleibt aber falsch und ist – gerade in Deutschland – verdächtig bequem. Dennoch ist Schostakowitsch keineswegs der linientreue Stalinist gewesen, als den man ihn in den fünfziger und sechziger Jahren im Westen noch angesehen hatte. Insofern haben Volkovs Fälschungen die Debatte durchaus belebt.

Seit vielen Jahren gehört die Siebte auch in Deutschland zum Standardrepertoire. Kann man sie im Frühjahr 2022 immer noch spielen? Mehrere große Orchester hatten das so geplant, sie änderten aber ihre Pläne kurzfristig nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Krzysztof Urbansky, ein Pole, Dirigent des Deutschen Sinfonie-Orchesters Berlin (DSO), erklärte dazu: „Als Mensch bin ich solidarisch gegen die schreckliche Gewalt in der Ukraine. Als Künstler denke ich, dass es heute notwendig ist, sensibel zu handeln. Unter den gegenwärtigen Umständen mag es unangemessen erscheinen, Schostakowitschs Sinfonie Nr. 7. ‚Leningrad‘ aufzuführen.“ Das Deutsche Sinfonie-Orchester in Berlin hat Schostakowitsch im Programm gelassen, spielt aber statt der Siebten die Fünfte. Ähnlich hält man es in Hamburg und Paris. In München hätte die Siebte im Mai unter Waleri Gergijew zur Aufführung gebracht werden sollen. Dass der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker nicht nur ein bedeutender Dirigent ist, sondern im Wahlkampf auch für Putin eingetreten war und die Annexion der Krim gutgeheißen hatte, war bekannt, als der Münchner Stadtrat 2018 seinen Vertrag verlängerte. Damals scheint das kein Hinderungsgrund gewesen zu sein. Dennoch forderte Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter den Chefdirigenten jetzt, am 25. Februar 2022, auf, sich bis zum Ablauf des 28. Februar eindeutig vom Überfall auf die Ukraine zu distanzieren, ansonsten drohe die Kündigung. Reiter verwies dabei auf die Städtepartnerschaft von München und Kiew. Am 1. März 2022 erklärte Reiter, dass man sich mit sofortiger Wirkung von Gergijew getrennt habe. Für Gergijew springt jetzt Gatti ein, der jetzt allerdings auch die Fünfte statt der Siebten spielen will, angeblich weil er die Fünfte gerade einstudiert hatte und für die Erarbeitung der Siebten keine Zeit mehr war. In Salzburg hingegen bleibt es bei der Siebten. Der Intendant der Osterfestspiele Nikolaus Bacher sagte dazu auf einer Pressekonferenz, dies sei „in gewisser Weise die Sinfonie der Stunde“. Sie zeige all das, was wir jetzt erleben müssten und sei „so antikrieg- und antidiktatur-trächtig wie sie nur sein kann“. Leiten soll sie der aus Nordossetien stammende Dirigent Tugan Sokhiew, der nach dem Einmarsch in die Ukraine sowohl sein Amt als Musikchef des Bolschoi-Theaters wie auch des Orchestre du Capitol de Toulouse aufgegeben hatte, die Aufforderung, die russische Invasion in der Ukraine zu verurteilen, allerdings als beleidigend empfand: Man dürfe nicht infrage stellen, dass er als Musiker „jemals für etwas anderes als den Frieden auf unserem Planeten sprechen könnte“.

Es hat Fälle gegeben, in denen Musiker:innen allein ihrer Nationalität wegen ausgeladen wurden. Ein von der Schweizer Stiftung Karthause Ittingen angekündigtes Konzert mit der in Deutschland lebendenden russischen Cellistin Anastasia Kobekina beispielsweise wurde wegen „genereller Kontroversen“ abgesagt, eine kuriose Begründung. Dabei hatte Kokebina sich öffentlich bereits vom Ukraine-Krieg distanziert, nur hatte man sich nicht die Mühe gemacht, das zu recherchieren. Nach einem kleinen Sturm in der Schweizer Presse sprang eine andere Konzertagentur ein. 

Tageschau-online berichtete am 25. März 2022, Putin habe die Absage von Konzerten russischer Künstler in Deutschland bei einem Treffen mit russischen Künstlern mit Nazi-Methoden verglichen: „Das letzte Mal, dass eine solch massive Kampagne zur Vernichtung anstößiger Literatur geführt wurde, war vor fast 90 Jahren von den Nationalsozialisten in Deutschland“. Putin habe ausgeführt: „Tschaikowski, Schostakowitsch und Rachmaninow werden von Konzertankündigungen genommen, russische Autoren und ihre Bücher werden ebenfalls verbannt.“

Das ist offensichtlich falsch. Nirgends in Deutschland wurden im Jahr 2022 Bücher verbrannt, nach wie vor werden Tschaikowski und Rachmaninow gespielt. Auch Schostakowitsch wurde keineswegs aus dem Programm genommen. Niemand hat etwas gegen dessen erstes Cellokonzert einzuwenden (auch wenn Studierende wegen der technischen Schwierigkeiten stöhnen). Gestritten wird um die Siebte und da vor allem um die Frage, ob sie nationalistisch oder militaristisch sei und wie das in der in der gegenwärtigen Situation ankomme. Eine Userin von Tageschau-online empfahl dem russischen Präsidenten allerdings, sich die Siebte einmal ganz anzuhören: „Dann weiß er, wie sich die Menschen in der Ukraine fühlen.“

Ich finde, dass die Tageschau-Userin recht hat. Ich halte ihre Position allerdings nicht für selbstevident: Wenn Putin sich die Sinfonie tatsächlich von vorne bis hinten anhörte (gewiss hat er das längst getan), muss er keineswegs automatisch an die von ihm bombardierte Ukraine denken. Vielleicht denkt er auch an die Belagerung Leningrads, die seine Mutter überlebt hat. Die Sache ist weniger eindeutig, als sie mancher und manchem von uns erscheinen mag. Musik erreicht menschliche Tiefenschichten im Menschen, die anderswo außen vor bleiben müssen. Das ist ihre besondere Stärke. Gleichzeitig bleibt sie aber sehr oft weniger eindeutig als Textbeiträge (und selbst Textbeiträge werden oft unterschiedlich interpretiert). Beim Musikhören hängt viel vom Vorverständnis ab. Es ist sicher kein Zufall, dass mir als Theologen an der Siebten besonders die Orgelmusik auffiel. Russische Hörerinnen und Hörer wissen schon vor Konzertbeginn, dass es sich um eine Art Nationalheiligtum der Sowjetunion handelt. In Deutschland hat praktisches jedes Sinfonieorchester einige Musiker:innen, die aus Russland oder der Ukraine stammen. Auch die haben ihr jeweiliges Vorverständnis, das sich allerdings keineswegs allein am Herkunftsland entscheidet. Viele sind Profis genug, um die Noten in fast jeder Situation korrekt zu  spielen und dem jeweiligen Dirigat des Dirigenten (der Dirigentin?) Folge leisten zu können. Aber wollen wir eine ‚Kunst‘ hören, die aus bloßem Gehorsam entspringt?

Es stellt sich die durchaus Frage, ob man die Siebte jetzt, Mitten im Krieg, spielen kann. Verbieten sollte man das meiner festen Überzeugung nach nicht. Ich habe allerdings sehr viel Verständnis dafür, wenn ein Orchester zu dem Schluss kommt, dass das zur Zeit nicht geht. Was nicht geht, soll man es lassen. Nicht einmischen sollte sich der Staat. Wenig Verständnis habe ich dafür, dass der Münchner Oberbürgermeister vom Dirigenten Gergijew ein „Bekenntnis“ gegen Putin oder für die Ukraine verlangte. Wohin Gesinnungskontrolle führen kann, haben wir beim ‚Radikalenerlass‘ erlebt. Gleichzeitig wäre es mir als Musikhörer allerdings eine große Freude gewesen, den Dirigenten Waleri Gergijew seiner politischen Überzeugungen wegen nach einem Konzert auszubuhen, mit Gebrüll und Trillerpfeife. Wenn er diesen Beruf gewählt hat, muss er das aushalten können – Berufsrisiko.

Politikfrei kann man die Siebte nicht spielen. Insofern kommt es darauf an, in welcher Weise mit ihr Politik gemacht wird. Wer sie im Frühjahr 2022 aufführen will, sollte das in einer Form tun, die von niemandem als Gewaltverherrlichung (miss-)verstanden werden kann. Ist das möglich? Ich glaube nicht. Man sollte allerdings niemandem verbieten, es zu versuchen.

Übersicht über die Debatte um die Echtheit der Memoiren von Schostakowitsch: Dorothea Redepennig: Ärgernisse, Abgründe, Absurditäten. Fragwürdige Bücher zu Šostakovič, Osteuropa 56 (2006), 162-173.

Der dritte Satz von Strawinskys Psalmensinfonie beginnt 10:43 https://www.youtube.com/watch?v=VUSfrgPQjRM

Die Orgeltöne in Schostakowitschs siebter Sinfonie im dritten Satz ab 41:42 https://www.youtube.com/watch?v=DMcf8K_RJPU

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