„So sicher wie das Amen in der Kirche“ Geht es auch ohne?

von Dr. Uwe Gerrens

Vom Tübinger Neutestamentler Ernst Käsemann wird berichtet, dass er in hohem Alter in der Stiftskirche als Gemeindeglied manchmal während der Predigt dazwischenrief: „Stimmt nicht. Ist Alles Quatsch“. Von Seiten derjenigen, die gerade predigten, sollen diese Zwischenrufe gefürchtet gewesen sein, weil der alte Herr sie aus dem Takt brachte, eine internationale Berühmtheit war und sie nicht wussten, wie sie reagieren sollten. Ich war nicht dabei und habe das nur von Dritten gehört, vielleicht war es auch etwas anders, und es ist auch schon vierzig Jahre her, dass mir das erzählt wurde. Falls es aber tatsächlich so gewesen sein sollte, bin ich der Auffassung, dass Käsemann einen anderen Weg der inhaltlichen Auseinandersetzung hätte suchen sollen. Dennoch: Ich habe Käsemann zwar nicht mehr kennengelernt, habe aber aus seinen Büchern und Kommentaren den Eindruck gewonnen, dass er sehr oft Recht hatte.

Was mache ich als Gemeindeglied, wenn die Predigt völlig daneben ist oder ein Gebet so formuliert ist, dass das ich das guten Gewissens nicht mitbeten kann? Sage ich Ja und Amen, weil sich das in der Kirche so gehört?

Foto: Pixabay.gemeinfrei

Amen kommt aus dem Hebräischen, bezeichnet eine persönliche Zustimmung und wird oft mit „So ist es“ oder „So sei es“ übersetzt, Buber/Rosenzweig erfinden in ihrer Bibelübersetzung das Wort: „Jawahr“. Auch im Judentum und im Islam (dort „Amin“ gesprochen) werden Gebete mit Amen beendet. Kann ich, wenn etwas meiner Überzeugung nach nicht so ist, guten Gewissens „So ist es“ dazu sagen? Ich finde: Nein. Wenn ich ehrlich bin, kann ich nur dem folgen, von dem ich mich habe überzeugen lassen. Vielleicht irre ich mich, vielleicht aber auch nicht. Ich kann nur nach meinem derzeitigen Kenntnisstand urteilen. Die Liturgie bietet uns das Wort „Amen“ dafür an, dass wir dem Gesagten im Moment zustimmen können, wenn wir das nicht können, sollen wir das Wort auch nicht benutzen. Ich finde, in der Regel muss man da nicht laut dazwischen brüllen, aber Zustimmung heucheln sollte man auch nicht.

Wenn ich als Pfarrer Predigten und Gebete formuliere, muss ich immer im Auge haben, wie die Gemeinde, die vor mir sitzt, das, was ich zu sagen gedenke, empfindet und ob sie dazu „Ja und Amen“ sagen kann. Gleichzeitig ist das Evangelium allerdings auch nicht so harmlos, dass ich es allen Recht machen könnte. „Wehe euch, ihr blinden Heuchler, ihr Nattern, ihr Otterngezücht! Ihr seid wie die Gräber: außen schön weiß angestrichen, aber innen alle verrottet“. Möchten Sie als Gemeindeglied sonntags so angeredet werden? Biblisch wäre es schon. Auf der Kanzel müsste eine solche Beschimpfung aber auch gegen die predigende Person selbst gerichtet werden: „Ich Narr, ich Otterngezücht usw.“ Als Pfarrer möchte ich nicht, dass jemand aus der Gemeinde mir das in dieser Weise auf den Kopf zusagt. Dazu bin ich leider zu eitel.

Streit über die Predigt entzündet sich sehr oft an der Politik. Politik ist immer Menschenwerk, sowohl gute Politik als auch schlechte Politik. In der Kirche geht es immer um Gott, allerdings nicht um irgendeinen Gott, sondern um einen der gezeigt hat, dass es ihm in ganz besonderer Weise um uns Menschen geht. Im Gottesdienst geht es nicht um Politik, sondern um Gott. Doch gerade deswegen kann der Gottesdienst auch nicht unpolitisch sein. Als jemand, der einen Gottesdienst vorbereitet, muss ich überlegen, ob die Gemeindeglieder „Amen“ dazu sagen können. Im Prinzip strebe ich das an, beim Gebet noch sehr viel mehr als bei der Predigt. Gleichzeitig weiß ich aber auch, dass das Evangelium es nie allen recht macht. Insofern befinde ich mich auf einer schwierigen Gratwanderung und kenne keine Patentlösung dafür, wie man das immer richtig macht.

In der Gemeinde von Korinth gab es eine Art unverständliches Sprechen (Zungenrede, Glossolalie), über das sich im Anschluss an die „Pfingstbewegung“ vor allem seit dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert lange Diskussionen entwickelt haben. Damals schrieb Paulus der Gemeinde in Korinth: „Ich will beten mit dem Geist und will auch beten mit dem Verstand; ich will Psalmen singen mit dem Geist und will auch Psalmen singen mit dem Verstand. Wenn du Gott lobst im Geist wie soll der, der als Unkundiger dabeisteht, das Amen sagen auf dein Dankgebet, da er doch nicht weiß, was du sagst? Dein Dankgebet mag schön sein, aber der andere wird dadurch nicht erbaut“ (1. Kor. 14, 15-17).

Ich finde das sehr klar. Im Gottesdienst ist der ganze Mensch gefordert, Geist und Verstand, und wenn man im Gottesdienst etwas nicht versteht, kann man auch nicht „Amen“ dazu sagen. Dieses Jahr hat die liturgische Konferenz in der Evangelischen Kirche in Deutschland den Text aus dem 14. Kapitel des ersten Korintherbriefs dem Sonntag Kantate zugeordnet (vgl. BL.1 in den Losungen vom 11.5.2023). Am Sonntag Kantate geht es traditionell immer um das singende Gotteslob, also um die Kirchenmusik. Mich hat das überrascht, aber ich finde es richtig, ist dort doch die Rede von „Psalmen singen mit dem Geist, und Psalmen singen mit dem Verstand“. Es kommt also auf die Kombination von Heiligem Geist und Verstand an. Aber gibt es nicht auch Musik, die den Verstand ausschaltet?

Oft wird in diesem Zusammenhang gesagt, Musik habe nichts mit Verstand zu tun, sondern mit Gefühl. Ehrlich gesagt, ich verstehe die Alternative nicht. Ein Bach-Präludium will zwar das „Gemüt“ ansprechen, aber wer mit dem Bleistift und Notenblatt die Harmonien analysiert, benötigt ziemlich viel „Verstand“. Wer Bach auf der Orgel übt, sollte die Harmonien nicht nur mit dem „Gemüt“, sondern auch mit dem „Kopf“ verstanden haben. Das hat nicht nur etwas mit Bach zu tun, sondern gilt auch für andere Musik, für Gitarre ebenso wie Schlagzeug (auch wenn es beim Schlagzeug keine Harmonien gibt). Ich gehe also davon aus, dass „Gemüt“ und „Verstand“ beides menschliche Eigenarten sind, die dem Heiligen Geist gegenüberstehen.

In der wortlosen Kirchenmusik, klassisch im Vor- oder Nachspiel der Orgel, ist das Verstehen mit dem „Kopf“ in der Tat weniger zentral als das „Gemüt“. Das Vorspiel soll uns und unseren Emotionen helfen, anzukommen. Das ist ein wichtiger Teil des Gottesdienstes, der aber, aus gutem Grund, nicht mit „Amen“ beendet wird. Wir könnten dazu höchstens befinden: Gut gespielt, oder schlecht gespielt, gute Noten ausgesucht, oder schlechte Noten ausgesucht. Andere Teile der Kirchenmusik hingegen verbinden Text und Musik. Da ist dann doch wieder ein „Amen“ vorgesehen, übrigens auch, wenn der Organist sich verspielt hat. Das „Amen“ hat hier durchaus seinen Sinn. Musikalisch hat sich das fortentwickelt, sodass er Chor das Amen schließlich auch singen kann. Theologisch scheint mir das nicht ganz sauber zu sein (was mache ich, wenn der Chor etwas singt, was mir völlig widerstrebt?). Dennoch würde ein gesprochenes Amen als Schluss eines Chorgesanges wohl etwas abfallen. Insofern tendiere ich dazu, das als eine aus ästhetischen Gründen notwendige Ausnahme durchgehen zu lassen. Die meisten Komponisten wissen übrigens, dass eigentlich die Gemeinde das Amen zu sprechen hat. Der Chor „spielt“ dann die Gemeinde, und sie haben das musikalisch so angelegt, dass es als „Antwort“ der Gemeinde erkennbar bleibt.

Die Kirchenmusik hat „Amen“ sehr oft vertont, hier nur einige Beispiele:

Amen, Amen, das ist wahr, von Michael Prätorius (ab 3:02) https://www.youtube.com/watch?v=WqJ1ZnWG5e8

Amen. Komm Du schöne Freudenkrone, von Johann Sebastian Bach https://www.youtube.com/watch?v=GYT_Nae5w4E

Schlusschor aus Händels Messias https://www.youtube.com/watch?v=X3pjyNwz1-4

Amen als Fuge in Beethovens Missa Solemnis https://www.youtube.com/watch?v=GYT_Nae5w4E

Amen im bekannten 3-stimmigen Gospel-Kanon   https://www.youtube.com/watch?v=CiANSt1lCCE

Das „Dresdner Amen“, liturgische Chor-Akklamation aus dem achtzehnten Jahrhundert, wurde im neunzehnten Jahrhundert so bekannt, dass es (ohne Text) zitiert wurde, so durch, so Felix Mendelsohn-Bartholdy in der Reformations-Sinfonie, Gustav Mahlers 1. Sinfonie, Louis Spohr in der Sonate für Violine und Klavier, Anton Bruckner in der fünften und neunten Sinfonie, Richard Wagner in mehreren Opern, näher dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Dresdner_Amen

Sieben „Visionen des Amen“, vom „Amen der Schöpfung“ bis zum „Amen der Erfüllung“, komponierte Oliver Messiaens 1943 für zwei Klaviere    https://www.youtube.com/watch?v=BvHDHN8LSvU

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert