von Dr. Uwe Gerrens
Diese Frage stellte man sich 1935 im nordamerikanischen Kirchenrat (Federal Council of Churches of Christ in America), einer ökumenischen Vereinigung des amerikanischen „main-line-Protestantismus“, der, grob vereinfacht, die meisten nicht-evangelikalen protestantischen Kirchen umfasste. Dass die Olympiade 1936 in Berlin stattfinden sollte, war keine nationalsozialistische Idee, sondern schon Jahre voraus vom Internationalen Olympischen Komitee beschlossen worden, noch zu Zeiten der Weimarer Republik. Nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht „ergriffen“ hatten, wie es etwas beschönigend hieß, stellte sich international die Frage, ob das noch gelten sollte.
Das NS-Regime verbreitete, es werde die Spiele im Sinne des olympischen Gedankens durchführen und niemanden ausschließen. Allerdings ließ die Verkündung der Nürnberger Gesetze besonders in den USA ernsthafte Zweifel an dieser Ankündigung aufkommen. Als das US-Amerikanische Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, der begeisterte Mussolini-Biograph General Charles H. Sherrill, von einer Deutschlandreise zurückkehrte und erklärte, dass in den USA nur Juden für einen Boykott einträten, nahmen eine Reihe Mitglieder des nordamerikanischen Kirchenrates (Henry A. Atkinson, Samuel Parkes Cadman, Samuel McCrea Cavert, Henry Smith Leiper, Fred B. Smith, und Michael Williams,) das zum Anlass, ihm in einem schon länger geplanten Boykottaufruf zu widersprechen. Darin es:
„Es wurde der falsche Eindruck verbreitet, dass nur Juden sich für die Frage einer amerikanischen Weigerung interessierten, unter nationalsozialistischer Regie an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Als Nicht-Juden möchten wir so klar wie möglich erklären, dass wir das nicht als jüdische Frage ansehen. Es handelt sich vielmehr um eine amerikanische Frage. Sie umfasst sämtliche Prinzipien des Fairplay im Sport. Wir wissen, dass es in einem Nazi-Deutschland, in dem durch Dekret sämtliche nichtarischen Juden oder Christen ihrer Bürgerrechte beraubt wurden, kein Fairplay bei der Durchführung einer Olympiade geben kann. Wir, die wir unser Recht als amerikanische Bürger im Interesse eines sauberen und ehrenwerten Sportes ausüben, lehnen eine amerikanische Beteiligung ab und hoffen, dass es dadurch international zu Absagen kommt, damit dem deutschen Volk klar gemacht wird, dass die Behandlung der Nichtarier durch die Nazis dem Gewissen der Menschheit zuwider ist.“
Dieser von vier evangelischen Pfarrern und einem liberalen katholischen Journalisten verfasste Aufruf erscheint mir auch heute noch bemerkenswert. Mit etwas Abstand fällt allerdings auf, dass er keinerlei theologische Argumentation erkennen lässt, sondern zum Teil national-amerikanisch argumentierte, zum Teil mit den Bürgerrechten, zum Teil mit Fairplay im Sport und zum Teil mit dem Gewissen der Menschheit. Es wird nicht erklärt, wie sich diese Argumentationsebenen zueinander und zum Christentum als Religion verhalten. Von der Begründung her empfinde ich das als unzureichend. Doch muss man den Autoren zugutehalten, dass es ihnen weniger um eine systematisch saubere Begründung ging, als um ein breites Fundament für Unterschriftensammlungen. Zweifelsohne gehörte die Durchführung sportlicher Großveranstaltungen nicht zur kirchlichen ‚Kernkompetenz’ und die unterschreibenden älteren Herrschaften waren selbst alles andere als Spitzensportler. Dennoch erkannten sie richtig, dass ein „sauberer und ehrenwerter“ Wettkampf in Berlin nicht möglich war und der Ausschluss des jüdischen Bevölkerungsteils aus weiten Lebensbereichen in Deutschland neben vielem anderen auch dem Gedanken des „Fairplay“ widersprach.
Die Delegierten der amerikanischen Amateur Athletic Union stimmten am 8. Dezember 1935 auf ihrer Jahreshauptversammlung ab: 58 Menschen votierten gegen einen Boykott, 56 dafür. Damit nahmen die USA an der Berliner Olympiade teil. Die diversen Boykottbefürworter waren unterlegen, wenn auch denkbar knapp. Es fehlte nur sehr wenig, und es wäre anders ausgegangen.
In Großbritannien verlief die öffentliche Diskussion, sofern es überhaupt eine gab, anders. Kein einziger der bekannteren Kirchenleute, auch niemand unter denen, die den Nationalsozialismus kritisch beurteilten, rief zu einem Olympia-Boykott auf. Im Gegenteil: Als der Erzbischof von York, William Temple, im Dezember auf eine Vortragsreise nach New York fuhr, nahm er den Dampfer „Bremen“, der einer deutschen Reederei gehörte, was viele Amerikaner, die seit 1933 Aufrufe zum Boykott deutscher Waren formuliert hatten, kritisch sahen. Bei der Einfahrt in New York wurde das Schiff nicht nur von einer gegen die Deutschen demonstrierenden Menge begrüßt, sondern auch von einer größerem Zahl Polizisten, die die Demonstrant:innen von aussteigenden Passagier:innen fernhalten sollten. Die Journalisten bedrängten den Erzbischof mit der Frage, ob man die Olympiade boykottieren solle. Er antwortete, es gäbe keinen Grund, ein Handel („Deal“) mit einzelnen Personen zu verweigern, bloß weil man mit gewissen Handlungsweisungen ihrer Regierung an einigen weniger wichtigen Punkten („minor points“) nicht übereinstimme. Damit knüpfte Temple an die britische Freihandelstradition an, die (fast) immer dem Handel Vorrang gegenüber moralischen Erwägungen gab, und behandelte die Olympiade analog zu Handelsangelegenheiten. (Es war übrigens derselben Willam Temple, der im März 1943 im Oberhaus als Erzbischof von Canterbury vergeblich flammende Reden gegen den Holocaust und für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge hielt). Hier aber muss man nun doch sagen, dass die Nürnberg Gesetze kein „minor point“ waren.
In Großbritannien diskutierte man breit, ob britische Universitäten die Einladung zu deutschen Universitätsjubiläen wahrnehmen sollten. Da die anglikanischen Bischöfe traditionell in enger Verbindung zur örtlichen Universität standen, kam es hier auch auf die Haltung der Bischöfe an.
1936 feierte die Universität Heidelberg ihr 550- jähriges Jubiläum unter starker auswärtiger Beteiligung, eine glanzvolle Veranstaltung von internationalem Rang, von der allerdings die inzwischen entlassenen jüdischen Professoren ausgeschlossen blieben. Nachdem die Einladung an viele britische Universitäten ergangen war, bat George Bell, der Bischof von Chichester und Freund Dietrich Bonhoeffers, seinen Kollegen Hensley Henson, den Bischof von Durham, der ihn schon bei einem Synodenappell gegen die Nürnberger Gesetze unterstützt hatte, eine „Rakete“ für die Londoner Zeitung „Times“ zu verfassen. Henson zögerte, entschied sich eines Nachts doch noch dafür, verbrachte den anschließenden Morgen damit, die richtigen Worte zu finden. Seinem Tagebuch zufolge war er mit dem Manuskript unzufrieden, schickte es aber noch am Vormittag ab, weil ihm keine Zeit mehr blieb. Tags darauf fand er seinen Beitrag ganz groß herausgebracht auf der Titelseite der „Times“ wieder. Vom Wissenschaftshistoriker Charles Singer mit einer Liste sämtlicher Heidelberger Entlassungen seit 1933 versorgt, konnte er seine Vorwürfe präzise untermauern und entfacht damit eine breite Diskussion. Aus Bristol kam vom Vizekanzler der dortigen Universität, einem Anglikaner, ein warmer Dank mit dem Hinweis, dass die Universität Bristol absagen werde, die Universitäten Oxford und Cambridge zogen nach, womit die Absage zum nationalen Ereignis wurde. Henson hatte, seinem Tagebuch zufolge, nicht geahnt, was er auslösen würde, und erhielt täglich neue – zustimmende ebenso wie ablehnende – Reaktionen. Zustimmung erhielt er nicht nur von zahlreichenden Wissenschaftlern, die er bewunderte, sondern überraschender Weise auch von Außenminister Anthony Eden. Doch auch seine Kritiker waren überaus zahlreich. Er bangte täglich, konnte aber letztlich von Glück sagen, dass keiner seiner engeren Freunde dazugehörte, auch wenn einige seinen Tonfall bemängelten.
Zum 200jährigen Jubiläum der Universität Göttingen wurde die Universität Durham eingeladen. Der dortige Senat der Universität entschied sich im Mai 1937, eine Delegation zu schicken. Henson, zufällig der Ortsbischof, schickte privat einen Brief an Kanzler und Vizekanzler, wenn sie diesen Beschluss umsetzten, werde er den Konflikt öffentlich machen und sich demonstrativ vom hundertjährigen Jubiläum der eigenen Universität Durham fernhalten. Der Senat machte einen Rückzieher und blieb dem Göttinger Jubiläum fern. Damit hatten die britischen Universitäten deutsche Universitätsjubiläen boykottiert.
Für einige US-amerikanische Universitäten und Colleges hingegen bedeutete es bereits eine Auszeichnung, zum Heidelberger Jubiläum eingeladen worden zu sein. Delegationen schickten beispielsweise Harvard, Cornell, Illinois, Vassar, Yale oder Columbia. Ein studentischer Protest auf dem Campus gegen den Nationalsozialismus in der Form einer öffentlichen Buchverbrennung (um vorzuführen, was in Deutschland zurzeit üblich sei), konnte als eine auf dem Campus unzulässige politische Tätigkeit gewertet werden und zur Relegation führen. Der nordamerikanische Kirchenrat hat sich nicht zur Teilnahme amerikanischer Universität an deutschen Universitätsjubiläen geäußert, vermutlich, weil die Kirchen in den USA stärker privatwirtschaftlich organisiert waren und die Kirchen glaubten, sich in Entscheidungen privater Unternehmen nicht einmischen zu sollen.
Meiner Meinung nach waren, sind und bleiben Boykottaufrufe ein zwiespältiges Mittel internationaler Politik. Was hat die Kirche damit zu tun? Ich bin dennoch der Auffassung, dass der Aufruf des nordamerikanischen Kirchenrates zu einem Olympia-Boykott (trotz unzureichender Begründung) ein bemerkenswertes Dokument bleibt und die Entscheidung für diesen Aufruf richtig war. Ähnliches gilt für die „Rakete“ des Bischof von Durham in der „Times“: Das Dokument war für damalige britische Verhältnisse ungewöhnlich scharf verfasst. Uns mag dieser Tonfall normal vorkommen, damals gehörte es sich eher nicht, dass ein anglikanischer Bischof so explodierte. Für uns ist es selbstverständlich, dass Henson Recht hatte. Für ihn selbst war das nicht so eindeutig Seinem Tagebuch zufolge sorgte er sich bei jedem eingehenden Brief, einer seiner Freunde könnte anderer Meinung sein und ihm widersprechen.