Sollte Gotteslästerung strafbar sein?

Ein Blick in die Kirchengeschichte

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

„Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht“ (Ex. 20,7, Luther 2017), heißt es in den zehn Geboten: Gott wird …nicht ungestraft lassen. Vom König ist nicht die Rede.  

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Malt man die Zehn Gebote auf den beiden Tafeln vom Sinai auf Altarbilder, teilt man hälftig zwischen fünftem und sechstem Gebot, weil sich das besser malen lässt. Theologisch hingegen teilt man unsymmetrisch (in dieser Form erstmalig wohl um 250 v. Chr. im Judentum): Die ersten Gebote (Selbstvorstellung Gottes bis Sabbatgebot) betreffen die Gottesrelation („Kulttafel“), die folgenden (Elterngebot bis Begehrensverbote) die zwischenmenschlichen Beziehungen („Sozialtafel“). Das passt zum Doppelgebot der Liebe: Im Judentum wie im Christentum sah man in den Geboten der ersten Tafel Konkretionen der Gottesliebe und in denen der zweiten Tafel Konkretionen der Nächstenliebe.

Dass Gotteslästerung vor einem weltlichen Gericht strafbar sein müsse, stand nicht in den Zehn Geboten, ließ sich aber aus anderen Bibelversen (z.B. Lev. 24,10-26) herleiten. Doch setzte das voraus, dass die Rechtsnormen auch von Juden bzw. Christen angewandt wurden. Zur Zeit Jesu galt das Recht der („heidnischen“) römischen Besatzungsmacht, die allerdings aus machtstrategischen Erwägungen heraus Teile jüdischen Rechtes beibehielt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Gotteslästerung dazu gehörte. Doch wurde das Neue Testament nicht von Juristen geschrieben, sodass die „Rechtsgrundlage“ für die Kreuzigung Jesu nicht ganz klar ist. Die Pilatusfrage und die Kreuzesinschrift („Jesus von Nazareth, König der Juden“) verweisen auf Straftatbestände nach römischen Recht: auf schweren Landesverrat (perduellio) oder Majestätsanmaßung (crimen maiestatis). Zwei Evangelien berichten darüber hinaus vom Vorwurf der Gotteslästerung nach jüdischem Recht (Mk. 14,63, Joh. 19,7). Eine antisemitische oder zumindest stark antijudaistische Interpretation dieser Bibelstellen besagte, dass „die Juden“ schuld am Tode Jesu seien. Pilatus selbst fand laut Matthäusevangelium, an seinen Händen klebe kein Blut des Gerechten und wusch sich deshalb demonstrativ die Hände in Unschuld (Mt. 27,24). Die Zeugen waren manipuliert. Von einem Justizirrtum zu sprechen, wäre wohl untertrieben. Eher sieht es nach einem bewussten Fehlurteil aus, das dem gewieften Politiker um der Ruhe und Ordnung willen als unvermeidlich erschien. 

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Mit der konstantinischen Wende (313 n.Chr.) rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob die christlichen religiösen Gebote für alle Menschen oder nur für alle Christen verbindlich erklärt werden sollten. Konstantins Enkel Julian I., der als Kaiser das Rad noch einmal zurückdrehen und zur griechisch-römischen Religion zurückkehren wollte, hielt die Gebote der ersten Tafel außerhalb von Christentum und Judentum für nicht konsensfähig, die der zweiten Tafel hingegen für selbstevident auch ohne Glauben an den Geber dieser Regeln. Die Unterscheidung wurde hinfällig, nachdem Kaiser Theodosius 380 n.Chr. das Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte. Später sahen sich die römischen Kaiser als zuständig für die Einhaltung beider Tafeln an.

1199 forderte Papst Innozenz III. im Dekretale „Vergentis in senium“, durch „Ketzer“ vorgenommene „Gotteslästerungen“ den Majestätsverbrechen gleichzustellen. Sein Argument war von bemerkenswerter Schlichtheit: Wenn Gott über den weltlichen Herrschern steht, kann die Beleidigung Gottes nicht geringer bestraft werden als die Beleidigung weltlicher Herrscher. Innozenz dachte an die zum Patrimonium Petri gehörige Stadt Viterbo, deren „Ketzer“ ihrem Irrtum abschwören sollten, widrigenfalls ihr Vermögen durch den Landesherrn eingezogen werden sollte, eine vielleicht nicht unerwünschte Nebenfolge, da hier der Papst selbst Landesherr war. In den folgenden Jahrhunderten bot das Viterbo betreffende Dekretale eine Rechtsgrundlage für die Verfolgung von „Ketzern“ wegen „Gotteslästerung“ in anderen Ländern und Regionen.

Laut Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507 galt für „Ketzerei“ die Todesstrafe. Das hätte auch die Reformatoren treffen können, wenn sie nicht prominente Unterstützer bei einigen Fürsten und in diversen Stadtsenaten gehabt hätten. Luther stritt der Obrigkeit das Recht ab, das Evangelium zu unterdrücken, und begründete das mit seiner Zwei-Reiche- und Regimenter-Lehre: In Gottes Reich zur Linken, der Kirche, regiert er ohne Gewalt und allein durch das Wort („sine vi, sed verbo“), in Gottes Reich zur Rechten regiert er durch die Obrigkeit, notfalls mit Gewalt, dem „Schwert“. Das Reich zur Linken entsprach der ersten, das Reich zur Rechten der zweiten Tafel der Zehn Gebote. Inkonsequenter Weise gestand Luther der staatlichen Gewalt aber auch Eingriffe ins Reich zur Linken zu: Wenn Gott gelästert wird (so Luthers Argument), schickt er Strafen: Seuchen, Teuerungen, Kriege usw. Das sind „weltliche“ Vorgänge, für die die Obrigkeit verantwortlich zeichnet. Wenn die Obrigkeit mit ihrem Schwertamt für rechte Gottesverehrung eintritt, dient sie dem leiblichen Wohlergehen ihrer Bürger. In der Folgezeit befürwortete man deshalb auch im Luthertum (so etwa in der Konkordienformel von 1577) die „Aufsehung der Druckereien und andere heilsame Mittel“, also die Zensur, nur dass sie selbstverständlich der lutherischen Lehre dienen sollte.

Nach der im ganzen Reich geltenden „peinlichen Halsgerichtsordnung“ Kaiser Karl V. von 1532, dem ersten Reichsstrafgesetzbuch, blieb Gotteslästerung im ganzen Deutschen Reich strafbar, auch wenn Katholiken und Protestanten möglicherweise nicht immer einer Auffassung gewesen sein mögen, was darunter fiel und was nicht. Francisca Loetz hat in ihrer Habilitationsschrift Urteile dieser Zeit aus dem reformierten Zürich in großer Zahl ausgewertet. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Gotteslästerung als „Breitbanddelikt“ in heutigen Kategorien ganz verschiedene Tatbestände betraf, am allerwichtigsten das alltägliche Fluchen und Schwören, auch das Verfluchen einer Person als die in damaligen Kategorien schwerwiegendste Form der Beleidigung. Atheismus im heutigen Sinne kam in ihren Quellen nicht vor. Dafür konnte (eine Ausnahme, aber es kam vor) ein Jude wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt werden, weil er die Gottessohnschaft Jesu und die Jungfrauengeburt bezweifelte.

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1871 erhielt das neu gegründete Deutsche Reich ein Reichsstrafgesetzbuch. Laut § 166 war es strafbar, öffentlich in „beschimpfenden Äußerungen“ Gott zu lästern, Ärgernis zu geben oder das Bekenntnis einer der christlichen Kirche oder einer anderen innerhalb des Bundesgebietes bestehenden Religionsgesellschaft zu beschimpfen oder in einer Kirche oder „in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte“ beschimpfenden Unfug zu treiben. Geschützt wurden damit die in Deutschland bestehenden Religionsgemeinschaften, und zwar alle gleichermaßen. Doch wurde die öffentliche Gotteslästerung auch dann unter Strafe gestellt, wenn keine bestimmte Religionsgemeinschaft beleidigt wurde.

1908 erklärte der Antisemit Theodor Fritsche: „Dass die Hebräer ihr Judentum ablegen und Deutsche werden wollen, glaube ich nicht eher, als bis sie ihre talmudischen Schriften verbrennen und ihre Synagogen niederreißen – zum Zeichen dafür, dass sie nicht länger Jahwe, den Geist der Bosheit und Lüge anzubeten gesonnen sind.“ Nach Strafanzeige durch den Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wurde Fritsche wegen Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft und Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch Anreizung zu Gewalttaten zu einer Woche Gefängnis verurteilt. Das Gesetz sah Strafen „bis zu drei Jahren Gefängnis“ vor. Das Gericht blieb also am untersten Ende des Strafrahmens, zumal Fritsche Widerholungstäter war.

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Heftig umstritten war das satirisch-groteske Drama „Das Liebeskonzil“ von Oskar Panizza aus dem Jahr 1894, zumal der genaue Inhalt kaum jemandem bekannt war, nachdem die Polizei den überwiegenden Teil der bereits an den Buchhandel ausgelieferten Bücher beschlagnahmt hatte.
Das Drama erklärte das plötzliche Auftreten der Syphilis Ende des 15. Jahrhunderts als göttliches Auftragswerk des Teufels, um eine verkommene Menschheit zu strafen, und thematisierte das katholische Gottesbild, heuchlerische Frömmigkeit und die Dekadenz der Renaissancepäpste, Sex and Crime. 1895 wurde Panizza wegen Blasphemie zu einer einjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, saß die Strafe ab und ging danach ins Exil in die Schweiz.

In den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts malte der Künstler George Grosz, bereits rechtskräftig wegen Beleidigung der Reichswehr verurteilt, einen Christus am Kreuz mit Gasmaske für das Bühnenbild eines Theaterstücks „Der brave Soldat Schwejk“, das Berthold Brecht und Erwin Piscator nach dem Roman von Jaroslav Hašek für die Bühne eingerichtet hatten. Unter dem Gasmaskenkruzifix stand der Satz „Maul halten und weiter dienen“, ein Zitat aus dem Roman, Durchhalteparolen eines Reichswehroffiziers, hier dem leidenden Christus zugerufen. Gewiss wollte Grosz damit provozieren. Seine Kritik richtete sich allerdings mehr gegen den Militarismus als gegen Christus. Ein Hauptmann der Reserve stellte Strafanzeige wegen Gotteslästerung. George wurde freigesprochen, das Reichsgericht hob den Freispruch wieder auf, eine Neuverhandlung führte zu erneutem Freispruch mit anderer Begründung, die das Reichsgericht akzeptierte. Später nutzten die Nationalsozialisten den Fall zu ihrer Propaganda: Ein Jude zeichnet Christus mit Gasmaske. Ein Christusmörder lästert Gott. Die verdorbene Systemjustiz schützt ihn.

Die Verabschiedung des Grundgesetzes ließ das Reichsstrafgesetzbuch weitgehend unberührt, wenn auch die Silbe „Reich“ entfiel. 1969 diskutierte die große Koalition über eine große Strafrechtsreform. Justizminister Gustav Heinemann, selbst engagierter evangelischer Christ, Mitglied bei der Barmer Bekenntnissynode von 1934 und in der Nachkriegszeit Vorsitzender der EKD-Synode und Ratsmitglied, wehrte sich dagegen, das Thema biblizistisch anzugehen: „In welcher Bibel steht eigentlich, dass alles, was etwa in den Zehn Geboten verboten ist, von Staats wegen strafrechtlich verfolgt werden soll? Wieso müssen sich die Grenzen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem mit den Grenzen des Strafrechts decken?“. Heinemann verteidigte mit diesem Argument die Abschaffung von § 172 StGB, Gefängnisstrafe für Ehebruch. „Auch bei der Gotteslästerung gilt es, nicht einfach in den alten Gleisen fortzufahren. Die Lästerung Gottes kann meines Erachtens nicht Gegenstand des weltlichen Strafrechtes sein. ‚Gott lässt sich nicht spotten‘ [Gal. 6,7], das heißt, er richtet auf seine Weise die, die ihn antasten“ (zitiert nach der lesenswerten Biographie: Thomas Flemming, Heinemann, S.371f).

Die Strafrechtsreform fand die Zustimmung des Bundestages. Damit entfiel die Strafbarkeit der Gotteslästerung. Seither wird nur noch bestraft, wer „den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören“. Weder ist Gotteslästerung strafbar, noch die Beschimpfung religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse. Strafbar wird es erst, wenn Bekenntnisse in einer Form beschimpft werden, die geeignet wäre, den öffentlichen Frieden zu stören. Dabei ist es nicht entscheidend, ob der Friede tatsächlich gefährdet ist (sonst hinge die Strafbarkeit von der Reaktion der beschimpften Religionsgemeinschaft ab), sondern davon, ob die Beschimpfung nach Einschätzung des Gerichtes schwer genug ist, dass sie den Frieden gefährden könnte. Schutzgut ist der öffentliche Frieden, ein zwar schwammiger Begriff, der aber auch sonst im Strafrecht vorkommt und zu dem eine einschlägige Rechtsprechung vorliegt.

Seit der Neuformulierung des § 166 StGB sind Verurteilungen äußerst selten. Beispielsweise wurde eine Studentin, die im Weihnachtsgottesdienst bei Kardinal Meissner ihr Oberteil entblößte und sich auf die Brust „Ich bin Gott“ geschrieben hatte, nicht wegen Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft bestraft, nur wegen Störung des Gottesdienstes. Straffrei ging auch ein Blogger aus, der die katholische Kirche eine „Kinderficker-Sekte“ genannt hatte. Hingegen wurde ein arbeitsloser Familienvater zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt, der Klopapier verkaufen wollte, das mit dem Koran bedruckt war. 30 Tagessätze a 100 Euro kosteten Sprüche, die ein Autofahrer auf seinem Auto angebracht hatte, darunter: „Wir pilgern mit Martin Luther, auf nach Rom. Die Papstsau Franz umbringen“, „Reformation ist geil – Papst umbringen“, „Kirche sucht moderne Werbeideen. Ich helfe!“ und „Unser Lieblingskünstler: Jesus – 2000 Jahre rumhängen. Und noch immer kein Krampf!“.  Zulässig hingegen war eine Überschrift in der taz zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes: „Kruzifix – Bayern ohne Balkensepp“.

In den jetzt wieder diskutierten Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung „Jyllands Posten“ und der französischen Satirezeitung Charlie Hebdo gilt ausländisches Recht.  § 140 des dänischen Strafgesetzbuches stellte unter Strafe, „wer öffentlich die Glaubenslehre oder Gottesverehrung irgendeiner legal in diesem Land bestehenden Religionsgemeinschaft verspottet oder verhöhnt“. Die dänische Staatsanwaltschaft musste diesen aus dem Jahr 1930 stammenden Paragraphen in Verhältnis setzen zur ebenfalls gültigen Pressefreiheit, zog den Rahmen für Einschränkungen der Pressefreiheit sehr eng und stellte deshalb das durch die Strafanzeige einiger dänischer Muslime initiierte Strafverfahren ein. Frankreich hatte aufgrund seiner laizistischen Tradition ohnehin kein vergleichbares Gesetz. Vermutlich hätte eine deutsche Staatsanwaltschaft bei einer Abwägung zwischen §166 StGB und der Pressefreiheit ähnlich entschieden wie ihre dänischen Kollegen, aber das muss Spekulation bleiben, weil sie nicht zuständig war. Ein Nachdruck der dänischen und französischen Karikaturen in deutschen Zeitungen mit Ziel, für die Pressefreiheit einzutreten, wurde vorgenommen und ist nach deutschem Recht zulässig.

Nicht alles, was das deutsche Strafrecht nicht verbietet, ist gut. Für friedfertige Menschen kann es kein Ziel sein, das gerade noch zulässige Maß an Grobheiten bei der Beschimpfung von Bekenntnissen anderer Religionsgemeinschaften auszuschöpfen. Ich wünschte mir von allen Seiten ambitioniertere Friedensbemühungen als das Vermeiden von strafbaren Handlungen auf niedrigstem Niveau. Dennoch kann staatliches Recht als religionsneutrale Instanz sich als hilfreich erweisen, wenn der öffentliche Frieden tatsächlich gefährdet wird. In diesem Fall kann, wer sich beschimpft sieht, zum Mittel der Strafanzeige greifen. Dafür ist das staatliche Recht da. Selbstjustiz ist keine Lösung.  Sie dient nicht der Wiederherstellung des öffentlichen Friedens und wird als Mord gewertet und zwar nicht nur nach deutschem, französischem oder österreichischem Recht, sondern auch nach türkischem oder algerischem.

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