Statement von Jacquelyn Altman im Gedenkgottesdienst zur Erinnerung an den Novemberpogrom 1938

Johanneskirche Düsseldorf, 8. November 2022

von Dr. Martin Fricke

In der Nacht vom 9. auf den 10. November jährte sich zum 84. Mal das Pogrom an jüdischen Frauen, Männern und Kindern, von den Nationalsozialisten verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt. In Düsseldorf wurden Wohnungen und Geschäfte zerstört, die Synagogen auf der Kasernenstraße und auf der Benrather Friedhofstraße geschändet und niedergebrannt…

Mit einem Gedenkgang und in einem ökumenischen Gottesdienst haben die evangelische und die katholische Kirche unserer Stadt der Ereignisse dieser Nacht brutaler Unmenschlichkeit (und aller Todesnächte davor und danach) gedacht. Zu Gast war Jacquelyn Altman. Jacquelyn Altman ist die Enkelin von Johanna und David Altmann. Johanna Altmann leitete einen Modesalon an der Blumenstraße, wo die Familie auch wohnte. Während des Pogroms wurden ihre Wohnung und das Geschäft völlig verwüstet. Davids und Johannas damals 17jähriger Sohn Alfred, Jacquelyns Vater, gelangte noch mit einem Kindertransport nach Großbritannien, von wo er später nach Kanada abgeschoben wurde. Sie selbst jedoch wurden am 27. Oktober 1941 in das Ghetto Litzmannstadt deportiert und später in Auschwitz ermordet. Bis zur Deportation stand ihnen ihre ehemalige Angestellte Martha Schumacher zur Seite.

Johanna Altmann mit ihrem Sohn Alfred, 1920er Jahre (Privatbesitz Altman)

Im Gedenkgottesdienst hat Jacquelyn Altman die folgenden Worte gesprochen (Übersetzung: Dr. Andrea Ditchen):

Guten Abend,
am heutigen Abend spreche ich nicht nur für mich selbst, sondern auch im Namen meiner Familie. Einer Familie, die einmal groß und voller Leben war. Einer Familie, die für Generationen auf diesem Kontinent gelebt hat. Einer Familie, in der man sich liebte und rührend umeinander kümmerte. Einer Familie, die unternehmerisch tätig war, die hart arbeitete und im Ersten Weltkrieg tapfer für die Verteidigung ihres Vaterlandes kämpfte. Einer Familie, die ihren jüdischen Glauben lebte. Einer deutschen Familie, die es nicht mehr gibt.

Es ist sehr schwer für mich heute hier zu sein – nicht weil ich dem nachtrauere, was einmal da war, sondern angesichts dessen, was nicht da ist, was aber hier sein sollte.

Wir sind hier versammelt, um an den Verlust zu erinnern, aber auch um daran zu erinnern, wie es zu eben diesem Verlust kam. Wir alle wissen, dass die Geschichte der Menschheit durchsetzt ist mit Krieg und Zerstörung. Aber die Shoa war eine bis dahin nie dagewesene Form des Bösen. Der Nationalsozialismus war eine Erfindung, die einzigartig war in ihrer Bösartigkeit und die in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel. Der Holocaust war der Versuch, eine Volksgruppe zu entmenschlichen und zu vernichten. Dabei war es nicht das Ziel der Unterdrücker, an Macht zu gewinnen, sondern einen schlichten, aber mächtigen Hass auszuleben.

Mein Vater überlebte diese Grausamkeit. Sie sollen wissen, dass es ihn nicht zu einem verbitterten oder gar hassenden Menschen machte, doch Schmerz und Trauer waren dominanter Bestandteil seines Lebens. Trauer über das, was er verloren hatte. Ein Leben, das er geliebt hatte. Viele Jüdinnen und Juden schauen mit Zorn auf Deutschland und seine Bevölkerung. Als junger Mensch habe ich nie verstanden, dass mein Vater, seine Freunde und überlebende Verwandte dies nicht taten. In unserer Synagoge in Toronto, Congregation Habonim, gegründet von deutschen Überlebenden, leitete mein Vater in jedem Jahr den Märtyrer-Gottesdienst, der den Opfern des Holocaust und somit auch seinen geliebten Eltern gewidmet war. Nie war Zorn in seiner Stimme, wenn er die Gebete und Widmungen sprach oder die Mörder benannte. Und mittlerweile verstehe ich warum: Im Grunde seines Herzens war er nicht nur Jude, sondern auch Deutscher, der mit einer Liebe für seine Kultur aufwuchs. Er verweigerte den Nationalsozialisten das Recht zu definieren, was Deutsch ist und was es heißt Deutscher zu sein. Er selbst hat nie verleugnet, wer er war. Wie seine Mitüberlebenden hatte er verstanden, dass die Shoa nicht das Produkt einer bestimmten Kultur oder eines Volkes war, sondern das Resultat von menschlicher Unmenschlichkeit, das Produkt ungehindert schwelenden Hasses, der entsteht, wenn wir stillhalten, bis es zu spät ist.

Nordamerika ist so selbstbezogen, so polarisiert, und wir leben dort ohne Geschichtsbewusstsein. Mir scheint dort so wenig Raum für Diskussionen und Auseinandersetzung sein. Als Jüdin hat man dort das Gefühl, dass der Antisemitismus so weit verbreitet ist wie er es damals in den 1930er Jahre hier war. Auch in Europa und in anderen Teilen der Welt machen Jüdinnen und Juden diese beängstigende Erfahrung. Ich denke, Jüdinnen und Juden fragen sich nicht mehr nur noch „Wer können unsere Verbündeten sein?“, sondern auch „Wohin können wir fliehen und uns verstecken, wenn es nötig wird?“. Und das nur, weil diese Geißel der Menschheit wieder da ist. Die Suche nach einem Sündenbock, die Schuldzuweisung, der Hass – sie sind wieder da und sie überzeugen wieder Menschen. Es scheint, dass der Menschheit ein tiefes Gefühl der Hoffnungslosigkeit innewohnt und dass ebendies den Hasspredigern so viel Macht verleiht. Das müssen wir stoppen.

Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um Ihnen ein „Nie wieder“ zuzurufen, sondern in der Hoffnung und Erwartung, dass Sie mir sagen würden „Nie wieder!“. Ich wollte hören, welche Lehren Sie gezogen haben, wie Sie Ihren Kindern ebendiese Lehren vermitteln und dass Sie den Hass Ihrer Vorfahren ablehnen. Ich wollte, dass Sie mir zeigen, wie wir gemeinsam erreichen, dass es nicht wieder passiert. Und ich bin so dankbar, dass ich genau das erleben durfte, während meines Aufenthalts hier. So möchte ich, wenn Sie erlauben, in hoffnungsvollem Tonfall enden.

Ich bin nun seit sieben Tagen in Deutschland – und ich durfte in dieser Zeit das Gesichts Deutschlands entdecken, das mein Vater so liebte. Ich habe Ursula Hahne wiedergetroffen, die Tochter Martha Schumachers, der Frau, die ihr Leben riskierte, um meinen Großeltern zu helfen. Und in ihren Augen sehe ich dasselbe Leuchten, dieselbe Güte, die sie von ihrer mutigen Mutter geerbt hat.

Ich habe Ihre wunderbaren Schülerinnen und Schüler kennengelernt, die so viel Zeit und Mühe in die Erinnerung an meine Familie investiert haben, indem sie mit mir auf den Gedenkgang durch Düsseldorf gegangen sind und einen so bewegenden Film über meine ermordete Familie gedreht haben, der mich zutiefst berührt hat.

Und ich durfte die Warmherzigkeit, die Achtung und Würdigung erleben, die Dr. Andrea Ditchen von der Mahn- und Gedenkstätte und all Ihre Kolleginnen und Kollegen mir entgegengebracht haben. Sie haben mir und der Geschichte meiner Familie jeden Tag meines Besuches hier außerordentliche Aufmerksamkeit und Umsicht angedeihen lassen. Entgegen aller Sorgen und Befürchtungen, mit denen ich anreiste, verlasse ich Düsseldorf nun mit einem warmen Gefühl im Herzen, ganz erfüllt von der liebevollen Umarmung Ihrer aller Freundschaft. Das erlaubt mir, Düsseldorf voller Hoffnung „Auf Wiedersehen“ zu sagen.

Ich reise ab in dem Wissen, dass die Deutschen in guten Händen sind und dass die Geschichte meiner Familie durch Ihr aller Einsatz für immer bewahrt wird – ein Einsatz, der mich inspiriert, genau dasselbe zu tun, wenn ich zurück in Kanada bin.

Im Namen meines verstorbenen Vaters und meiner ermordeten Großeltern danke ich Ihnen für Ihre Solidarität, Ihre Verbundenheit und dafür, dass Sie mir die positive Seite Deutschlands zeigten, die meine Vorfahren so schätzten. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.

Ich würde gerne mit einem Friedensgebet enden, das sich aus Worten des Rabbiners Nachman von Bratzlav ableitet, die vor 200 Jahren geschrieben wurden.

Quelle des Friedens, Herrscher des Friedens,
verleihe dem Volk Israel Frieden,
lass sich Frieden unter allen Kreaturen ausbreiten,
lass Hass, Neid und Wettstreit zwischen den Menschen enden,
lass nur große Liebe und Frieden zwischen uns allen sein,
auf dass wir alle zusammenkommen können,
jeder mit seinem Nächsten,
um miteinander zu reden und voneinander die Wahrheit zu lernen.
Quelle des Friedens, segne uns mit deinem Frieden.

Amen.

David und Alfred Altmann auf der Königsallee, 1920er Jahre (Privatbesitz Altman)

Ein Kommentar

  1. Danke für diese Veröffentlichung in der „Himmelsleiter“.

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