Von der Angst zum Geist der Hoffnung

Predigt vom 31.12.2024 in der Evangelischen Markuskirche Düsseldorf

Dr. Martin Fricke, Pfarrer und Synodalassessor im Kirchenkreis Düsseldorf

Ist es Ihnen auch so ergangen? Weihnachten war und Silvester ist in diesem Jahr irgendwie ein „Trotz“-Fest. Wie viele gute Weihnachts- und Neujahrswünsche habe ich bekommen mit dem Zusatz „trotz all´ dem, was uns bedrückt und beschwert“! „Ich wünsche Dir frohe Weihnachten – trotz aller Kriege und Krisen, die die Welt überziehen…“ „Hab unbeschwerte Festtage – obwohl man ja kaum unbeschwert feiern kann angesichts der Sorgen um unsere politische und wirtschaftliche Zukunft…“ „Und komm gut in das neue Jahr – ob es besser wird als das zu Ende gehende? Wohl kaum…“

Irgendwie scheint es mir, als habe eine große Angst sich wie Mehltau über uns alle gelegt. „Die Angst geht um wie ein Gespenst“, lese ich in einem Büchlein des koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han[1]. „Permanent werden wir mit apokalyptischen Szenarien konfrontiert: Pandemie, Weltkrieg und Klimakatastrophe. Immer dringlicher wird der Weltuntergang oder das Ende der menschlichen Zivilisation heraufbeschworen. Die sogenannte `Doomsday Clock´, die Weltuntergangsuhr, steht 2023 auf 90 Sekunden vor zwölf. So nah an der Zwölf soll ihr Zeiger noch nie gestanden haben.“

Ich denke, viel krasser kann man das Angstszenario unserer Tage nicht beschreiben. Was im zu Ende gehenden Jahr passiert ist, ist ja eher geeignet, die Angst noch größer zu machen: Trump und Musk, der Aufschwung chauvinistischer und nationalistischer Ideologien überall auf der Welt, das scheinbar komplette Verschwinden von politischem Gemeinsinn in unserem Land. Dazu kommt, was uns persönlich bedrückt: das Gefühl der Einsamkeit nach dem Verlust eines geliebten Menschen vielleicht, die Angst vor dem Alt-Werden, die Sorge darum, in welcher Welt unsere Kinder leben werden…

Die Angst ist allüberall. Aber Angst – das wissen wir – ist ein schlechter Ratgeber. Angst kommt von „Enge“; sie lähmt. „Sie erstickt jede Weite, jede Perspektive, indem sie die Sicht verengt und versperrt. Wer sich ängstigt, fühlt sich in die Enge getrieben. Die Angst geht mit dem Gefühl des Gefangen- und Eingeschlossenseins einher. In der Angst erscheint uns die Welt als ein Gefängnis. Alle Türen, die ins Offene führen, sind verschlossen. Die Angst verbaut die Zukunft, indem sie uns den Zugang zum Möglichen, zum Neuen verschließt.“[2]

Und sie vereinzelt. Wer wie das Kaninchen vor der Schlange sitzt, starrt nur die Schlange an; die anderen Kaninchen sieht er nicht. Tunnelblick… Ein Leben in Angst ist kein Leben, wenn überhaupt. Es ist bestenfalls „Überleben[3].

Wir sind eine „Überlebensgesellschaft“, schreibt der schon erwähnte Byung-Chul Han. Sie „gleicht einem Kranken, der mit allen Mitteln versucht, den nahenden Tod abzuwenden. Doch erst die Hoffnung lässt uns jenes Leben zurückgewinnen, das mehr ist als das Überleben. Sie spannt den Horizont des Sinnhaften auf, der das Leben wieder belebt und beflügelt. Sie schenkt uns Zukunft.“[4]

Was wir also – vielleicht dringender denn je – brauchen, ist ein „Geist der Hoffnung“. So heißt auch das Büchlein von Byung-Chul Han, aus dem ich zitiert habe. (Und ich finde es im Übrigen bemerkenswert, dass es ein Philosoph und kein Kirchenmensch ist, der uns so nachdrücklich zum Hoffen aufruft.) Was wir brauchen, ist eine innere Haltung gegen „das weitverbreitete Klima der Angst“, dass „jeden Keim der Hoffnung“ erstickt[5]. „Die Hoffnung ist auch sprachlich die Gegenfigur der Angst. Im etymologischen Wörterbuch von Friedrich Kluge heißt es zum Hoffen: `Indem man sich nach vorne beugt, versucht man, weiter zu sehen, genauer zu sehen.´ Demnach bedeutet die Hoffnung `in die Ferne sehen, in die Zukunft sehen´. Sie öffnet den Blick für das Kommende. Das Verb `Verhoffen´ besitzt noch die ursprüngliche Bedeutung von hoffen. In der Jägersprache bedeutet es `stehen bleiben, um zu horchen, zu lauschen, Witterung zu nehmen`. So sagt man: `Der Rehbock verhofft.´ Wer hofft, nimmt auch Witterung, das heißt, versucht, Richtung zu gewinnen.“[6]

Wer hofft, sieht über die Gefahr hinaus, sieht sie im weiteren Kontext der Schöpfung, die der Ewige gemeint hat. Wer hofft, sieht nicht nur die Schlange, sondern die vielen anderen Kaninchen neben sich, mit denen er oder sie sich verbinden und verbünden kann. Wer hofft, gewinnt Freiheit von der Lähmung durch die Angst. Wer hofft, kann neu anfangen zu leben. „Die Hoffnung ist der Sprung, der Elan, der uns aus der Depression, aus der erschöpften Zukunft befreit.“[7]

Der Geist der Hoffnung – das ist kein naiver Optimismus, alles werde schon irgendwie gut werden. Der Geist der Hoffnung – das ist die vertrauensvolle Zuversicht, dass die Zukunft, unsere Zukunft nicht erschöpft, nicht ausgeschöpft ist; dass sie unendlich viele Möglichkeiten zum Neuanfang für uns bereithält; dass sie voller Geburten ist.

„Schön und gut“, mögen Sie nun fragen, „aber woher soll ich diese Hoffnung nehmen in meiner Angst, mit meinen Sorgen?“ – Von Weihnachten, antworte ich. Da ist er uns geschenkt worden, der Geist der Hoffnung! In der Geburt des Kindes in der Heiligen Nacht haben wir gesehen: Unsere Sehnsucht nach Licht in der Dunkelheit ist nicht vergeblich. Gott ist da, das Leben bleibt, die Liebe siegt. Und es lohnt sich, die Welt besser zu erhoffen, zu erdenken, zu machen.

In der Erinnerung daran, was vor 2000 Jahren im Stall von Bethlehem geschehen ist, haben wir „das Kommende“ gesehen[8]: Eine Zukunft voller Neuanfänge, voller Geburten. Die Zukunft Gottes für uns. Denn jede Geburt ist ein „Wunder, das den Lauf der Welt […] unterbricht und vor dem Verderben rettet[9].

Euch ist heute der Heiland geboren, hat der Engel den Hirten auf dem Feld zugerufen (Lukas 2,11). Ausgerechnet den Hirten! Tagelöhnern, in der sozialen Hierarchie ganz unten; darauf angewiesen, dass keines der Tiere verlorengeht oder von wilden Tieren gerissen wird, die sie für die reichen Leute hüten (in der Nacht ist die Gefahr am größten); desillusionierte Außenseiter – mehr wird dieses Leben ihnen nicht zu bieten haben: ein karges Auskommen, wenig menschliche Wärme – und die Angst. Euch ist heute der Heiland geboren!

An diesem Jahreswechsel, den so viel Angst, so vielen Sorgen umgreifen, höre ich dieses Euch eindringlicher als sonst. Nicht für alle Welt hat sich dieses „Wunder, das den Lauf der Welt […] unterbricht und vor dem Verderben rettet“, ereignet, nicht um der guten Ordnung willen ist Jesus geboren, sondern – Euch! Euch, wenn Ihr Euch fühlt wie die Hirten, die in finsterer Nacht hinter Steinfelsen kauern! Euch, heute, hier und jetzt, wenn dicke Felsbrocken Eure Seele bedrücken: Dir, der Du bittere Tränen um Deine verstorbene Partnerin weinst und nicht einmal ahnst, wie das Leben ohne sie weitergehen kann; Dir, die Du Dich am liebsten verkrümeln würdest vor den Herausforderungen des Altwerdens und Abschiednehmens; Dir, der Du nicht weißt, wie Du den Winter auf der Straße überstehen sollst; Dir, die Du an jedem Morgen am liebsten die Bettdecke über den Kopf ziehen würdest, weil Du fürchtest, den Herausforderungen des Tages nicht gewachsen zu sein; Dir, den die Sorgen um das Über- und Zusammenleben auf unserem Planeten mürbe macht… Euch ist heute der Heiland geboren!

Gott, der Erretter und Erlöser, ist zu uns gekommen. Und er wird seitdem wie vordem immer wieder geboren, wenn wir uns in Tränen auflösen und uns nach Heil sehnen. Er weint mit uns, er träumt mit uns, er teilt unsere Sorgen und unsere Angst – und in den Momenten, in den heiligen Nächten, in denen wir das spüren, erweitert sich unsere eingeschränkte Sicht um die Perspektive des Reiches Gottes; gewinnen wir neue Orientierung unter dem weiten Horizont einer Welt, die so ist, wie der Ewige sie meint; beginnt in uns der Geist der Hoffnung darauf zu wirken, dass Leben weiter möglich ist – Leben in seiner Schöpfung, die dazu bestimmt ist und bleibt, sehr gut zu sein.

Ich möchte in dieser Silvesternacht, wenn das Feuerwerk erloschen und der letzte Böller verklungen ist, zum Himmel schauen und an die Worte Paul Celans denken:

Ein Stern

hat wohl noch Licht,

nichts,

nichts ist verloren.

Und ich werde sehen, dass ich nicht alleine unter dem Sternenhimmel bin – und mit dem Geist der Hoffnung das neue Jahr beginnen!

Seid behütet!

Amen.


[1] Byung-Chul Han, Der Geist der Hoffnung. Wider die Gesellschaft der Angst, Berlin 2024, 11.

[2] Ebd., 14.

[3] Ebd., 12.

[4] Ebd., 12.

[5] Ebd., 12.

[6] Ebd., 14.

[7] Ebd., 29 (unter Anspielung auf Gabriel Marcel; s. ebd., 5).

[8] Ebd., 88.

[9] Ebd., 51 (mit Bezugnahme auf Hannah Arendt).

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