Antisemitismus ist nicht nur Teil unserer Geschichte, sondern längst wieder grausige Normalität. Von einem Sommer der Schande, Lippenbekenntnissen und der Bitte um Vergebung.
An der Außenmauer der Stadtkirche zu Wittenberg gibt es ein Relief aus dem Mittelalter. Ursprünglich im Inneren der Kirche, zeigt es eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen trinken, die Juden darstellen sollen. Ein Rabbiner blickt dem Tier, das im Judentum als unrein gilt, unter den Schwanz. Über diese Szene hat man später, als das Relief nach außen verlegt wurde, eine verballhornende Version des voll ausgeführten Gottesnamens des rabbinischen Judentums eingefügt – offenbar eine Anspielung auf Martin Luthers antijüdische Schmähschrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ aus dem Jahr 1543, in der der Reformator das rabbinische Judentum und den Talmud als Ausgeburt des Teufels dämonisiert und den Gottesnamen nach jüdischer Lesart sehr obszön diffamiert.
Im Juni 2022 sorgte ein Urteil des Bundesgerichtshofes für Aufsehen. Ein jüdischer Bürger hatte geklagt, die sogenannte Judensau sei beleidigend und solle entfernt werden. Der Bundesgerichtshof wies diese Klage ab. Die unter dem Kunstwerk angebrachten erklärenden Tafeln nähmen ihm seinen „ursprünglich rechtsverletzenden Charakter“. Die Diskussionen darüber halten bis heute an. Eine Verfassungsbeschwerde läuft.
Gehört die eindeutig antijüdische Plastik in den öffentlichen Raum, weil sie einen Teil unserer Geschichte repräsentiert? Oder zeigt ihre Existenz gerade hier, dass wir aus der Geschichte nichts gelernt haben? Wäre sie in einem Museum besser aufgehoben, das Propaganda entgegenwirkt und eine interpretierende Auseinandersetzung erwirkt?
Darstellungen wie diese gibt es nicht nur in Wittenberg. Im hohen Dom zu Magdeburg zum Beispiel ist eine „Judensau“ noch im Inneren der Kirche zu sehen. Und ein Seitenportal zieren die fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen nach Matthäus 25,1-13. Ihnen sind je eine Figur der Ecclesia, der Kirche, und der Synagoga, der Synagoge zugeordnet. Man muss nicht dreimal raten, wer zu wem gehört: natürlich die geknickte Synagoga zu den traurigen Versagerinnen, die stolze Ecclesia zu den Klugen, die sich freuen dürfen. In Stein gemeißelter Antijudaismus (und die ideologische Verbrämung eines jesuanischen Gleichnisses zudem)! Immerhin – in unserer Zeit hat man unter der Synagoga eine Platte in den Boden verlegt, auf der zu lesen ist: „Verschmähte Schwester Synagoge, vergib UNSERE todbringende BLINDHEIT. Ohne Ende gilt GOTTES VERHEISSUNG Dir wie uns.“
Tut sie das? Gilt sie uns, mit einer zweitausendjährigen Geschichte voller Hass und Mord an jüdischen Menschen im Rücken, noch so, wie sie ihnen immer gegolten hat? Nur, meine ich, wenn wir, um Vergebung bittend, aus dieser Geschichte gelernt haben. Die 2022 erschienene Studie Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung macht in dieser Hinsicht auf den ersten Blick Mut.Evangelische Kirchenmitglieder scheinen „etwas weniger antisemitisch“ zu sein als katholische Christen und Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Überhaupt fördert, so die Autor*innen der Studie, eine bewusste und an anderen Traditionen interessierte Religiosität die Akzeptanz von Pluralität und Diversität.
Ein erfreuliches Ergebnis also. Allerdings nur auf den ersten Blick. Denn im Ganzen unterscheiden sich Kirchenmitglieder, was Vorurteile gegenüber anderen Religionen, Kulturen und Lebensformen angeht, „nur marginal von der Gesamtbevölkerung“. In Genderfragen zum Beispiel sind die Ressentiments erheblich, und Religiosität an sich feit auch nicht vor rechtspopulistischem oder -extremem Gedankengut. Je zentraler die Religiosität, desto stärker die Hemmung gegenüber Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; aber je größer die Fokussierung auf die eigene Religion, desto mehr steigt die Anfälligkeit für Intoleranz und Abschottung. Und: „biblische Texte und theologische Topoi [können] aufgrund ihrer prinzipiellen Interpretationsoffenheit zur host-ideology für andere Ideologien oder Einstellungen werden“. Siehe Matthäus 25,1-13 am Portal des hohen Doms zu Magdeburg!
Wenn es um den Kern dessen geht, was den christlichen Glauben ausmacht, sind antijüdische Stereotypen und abwertende Haltungen gegenüber Überlieferungen, die man ausschließlich dem Judentum zurechnet, in Theologie und Kirche möglicherweise präsenter, als es die Studie ausweist. Nicht einmal zehn Jahre ist es her, dass ein Professor der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Berliner Humboldt-Universität öffentlichkeitswirksam die Bedeutung des ersten Teils der Bibel für den christlichen Glauben in Frage stellte. Das sogenannte Alte Testament sei lediglich eine religionsgeschichtliche Vorstufe des Evangeliums und für Christenmenschen, die gar nicht seine unmittelbaren Adressaten seien, nur indirekt normativ – so lautete damals die These des Dogmatikers Notger Slenczka, die es bis in die Feuilletons schaffte. Gewiss, vor einer vereinnahmenden Aneignung jüdischer Traditionen durch das Christentum kann nicht genug gewarnt werden. Aber sollte sich nach jahrzehntelanger bibelhermeneutischer Arbeit und einem halben Jahrhundert christlich-jüdischen Dialogs nicht ebenso die Einsicht durchgesetzt haben, dass das Ereignis der Offenbarung des Gottesnamens, von dem das Erste Testament spricht, von zentraler und unaufgebbarer Bedeutung für die ganze Bibel und damit die Wurzel des Glaubens von Jüd*innen und Christ*innen ist?
Dass dem leider nicht so ist, lässt sich – leider – auch an der Praxis der Kirche ablesen. In den Köpfen vieler Kirchenmitglieder ist noch das sogenannte Substitutionsmodell maßgebend, demzufolge der neue Bund der Kirche („Neues Testament“) an die Stelle des alten Bundes Israels („Altes Testament“) getreten ist. Jesus, die Liebe Gottes („Evangelium“) statt seines Zorns („Gesetz“) verkörpernd, habe das Judentum seiner Zeit (sein Judentum!) aufgehoben. Sichtbar wird dieses Modell, wenn in unseren Gottesdiensten Lesungen aus dem Ersten Testament (Gemeinde sitzt) lediglich als Vorbereitung auf das Evangelium (Gemeinde steht) vorkommen oder wenn in unseren Predigten Texte aus der Hebräischen Bibel in der Regel christologisch ausgelegt werden.
Aber zurück zur Wittenberger „Judensau“: Soll sie weiterhin an der Außenmauer der Stadtkirche öffentlich zu sehen sein? Gerade angesichts der selbst in Theologie und Kirche unterschwellig präsenten antijudaistischen Stereotypen meine ich: Ja! Denn der in Stein gemeißelte Antijudaismus gehört zu unserer Geschichte; Verunglimpfung, Diskriminierung, Terror, Mord gehören zu unserer Geschichte. Zu einer Geschichte, in der wir wurzeln; zu einer Geschichte, die uns und wie wir mit ihr umgehen, prägt. Wir sind Teil dieser Geschichte, wir sind all´ das auch. Darum halte ich es für falsch, wahrhaft skandalöse Darstellungen wie die aus Wittenberg in einem Museum auszustellen. Weil das Ausstellen Distanz schafft, weil alles noch so gut gemeinte pädagogische Aufarbeiten und Erklären einen Prozess der Reinigung und des Abschließens suggeriert, den es von uns aus nicht geben kann. Wir können die Ereignisse der Vergangenheit nicht klinisch isolieren. Die „Judensau“ von Wittenberg oder die gebrochene Synagoga von Magdeburg sind und bleiben ein Stachel im Fleisch unserer Geschichte, sie bleiben ein Stachel in uns.
Im Übrigen: Die meisten gut gemeinten Gedenktage, Museumsprojekte und pädagogisch ausgefeilten Aufklärungskampagnen erreichen, so meine Erfahrung, diejenigen nicht, die diesen Stachel nicht spüren. Wie könnte es sonst sein, dass Antisemitismus mittlerweile wieder massive und in ihrer Massivität von vielen als „normal“ empfundene Realität geworden ist? Der Sommer 2022 sei „ein Sommer der Schande“, hat der hessische Antisemitismusbeauftragte Uwe Becker gesagt. Er meinte damit die unverhohlen antisemitischen „Kunstwerke“ auf der Kasseler Documenta und den Umgang mit ihnen; und die unsäglichen Aussagen des Palästinenserpräsidenten Abbas über einen „50fachen Holocaust“ Israels, denen der deutsche Kanzler erst mit Verzögerung widersprach. Aber auch rechtsextreme Politiker wären hier zu nennen, die in deutschen Parlamenten sitzen und gegen das Mahnmalmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin polemisieren; oder Kritiker der Coronamaßnahmen, die sich mit den Opfern des nationalsozialistischen Terrors gleichsetzen. Das ist die große, die zweite Schande, die die erste, die Verfolgung und Ermordung unserer jüdischen Geschwister potenziert.
Ein evangelisches Bildungshandeln, das die Einstellungen der Kirchenmitglieder ebenso wie deutlich antisemitische und rassistische Tendenzen in unserer Gesellschaft ernstnimmt, müsste provozierend sein, indem es uns mit dem Skandal unserer – kirchlichen wie weltlichen – Geschichte konfrontiert. Es müsste statt zu wohlfeilen Lippenbekenntnissen zur radikalen Auseinandersetzung mit uns selbst anleiten: theologisch, politisch, moralisch. Es müsste praktisch sein: Verhaltenstraining für einen selbstbewussten Umgang mit antisemitischen Klischees und rassistischen Parolen auf Schulhöfen, in der Straßenbahn oder im Stadion anstelle belehrender Vorträge in Aulen und Akademien. Es müsste die „grundsätzliche Offenheit für politisch-kulturelle Themen“, die die Studie in vielen Kirchengemeinden ausmacht, viel stärker nutzen und mit Diskursen in anderen zivilgesellschaftlichen Räumen – in Sportvereinen, Schützengesellschaften, Bürgerinitiativen … – verknüpfen. Es müsste antiideologisch sein und Diversität nicht nur als lästige Wegmarke, sondern als Ziel evangelischer und gesellschaftlicher Existenz vorleben. Und es müsste immer wieder „das Interesse an anderen religiösen Traditionskomplexen und damit die Überschreitung von Inhalten der eigenen religiösen Tradition“ wecken. Vor allem aber müsste es sich von dem Bewusstsein leiten lassen und das Bewusstsein wachhalten, dass es die Wurzel des biblischen Israel ist, die uns trägt (Römer 11,18).
Noch einmal zurück zur „Judensau“ in Wittenberg: Wie steht es nun aber um die Verletzungen, die Darstellungen wie diese in unseren jüdischen Mitbürger*innen hervorrufen? Müssen wir nicht zuallererst auf sie Rücksicht nehmen und alles tun, dass sich Traumatisierungen nicht auf ewig wiederholen? Gewiss, es bedarf einer sehr sorgfältigen, behutsamen Einordnung vor Ort. Und es bedarf der eindeutigen, unmissverständlichen Schuldbekenntnisse und Vergebungsbitten am Ort. Die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass dies sprachlich sensibel und inhaltlich verantwortlich geschieht – auch das ist Aufgabe evangelischer Bildung. Damit wir Christenmenschen weiter sagen können: „Ohne Ende gilt GOTTES VERHEISSUNG Dir wie uns.“
Die Zitate aus der im Text genannten Studie sind entnommen: Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Eine interdisziplinäre Studie zu Kirche und politischer Kultur, Leipzig 2022.
Quelle des Textes: eeb-Magazin 05/23 „Aufstehen“, Seite 16