Von der Verborgenheit Gottes – oder: fides semper reformanda

Dr. Martin Fricke
von Dr. Martin Fricke

Anders als die Naturwissenschaften hat die Philosophie es nicht mit den Dingen selbst zu tun, sondern mit dem Nachdenken über sie. Darum gibt es in ihr keinen experimentellen Fortschritt und kaum neue Entdeckungen. Ihre großen Fragen scheinen ausdiskutiert zu sein oder sich als prinzipiell unbeantwortbar erwiesen zu haben. Aber ist das wirklich so?

In der Religionsphilosophie erhitzt aktuell eine Debatte die Gemüter, bei der es nur auf den ersten Blick um ein altes, längst abgehandeltes Thema geht. In seinem sog. hiddeness argument hat der kanadische Philosoph John L. Schellenberg, Hochschullehrer in Halifax, folgendes behauptet:
Wenn Gott – wovon alle jüdischen und christlichen Traditionen ausgehen – Person und in seinem Person-Sein vollkommen ist, so muss er notwendig eine vollkommene persönliche Beziehung mit allen existierenden endlichen Personen haben. Alle beziehungsfähigen endlichen Personen, selbst wenn sie Zweifler sind oder keinen religiösen Glauben teilen, müssen also die Überzeugung haben, dass Gott existiert. Es gibt aber nachweislich „kompetente endliche Personen“, die diese Überzeugung nicht haben. Also ist es nicht der Fall, dass Gott existiert.

Auf der Ebene der reinen Logik mag gegen dieses – hier sehr vereinfacht dargestellte – Argument kaum etwas einzuwenden sein. Und um ein mögliches Missverständnis gleich auszuräumen: Schellenberg bestreitet nicht die Existenz des Göttlichen überhaupt, sondern die Überzeugung, es gebe Gott (oder Götter) als Person. Doch dazu später. Zunächst sei gefragt, ob das logische Kalkül des Philosophen unserer Lebens- und Glaubenswirklichkeit entspricht.

Offensichtlich nicht! Denn interessanterweise kommt das Wort „Offenbarung“ bei Schellenberg nicht vor. Damit aber lässt er den terminus technicus für ein lebendiges Begegnungs- und Beziehungsgeschehen außer Acht, von dem alle Grunddokumente personaler Gotteserfahrung erzählen: Der sich offenbarende ist zugleich ein sich verbergender Gott (Psalm 22,2ff; Matthäus 15,34), mit der Offenbarung seines Namens entzieht er sich dem Reich unserer Überzeugungen (Exodus 3,14). Und wir Menschen? Die biblische Urgeschichte (Genesis 3) beschreibt das Getrennt-Sein von Gott („Sünde“) als Preis unserer Freiheit, seine Verborgenheit gehört mithin zu unserer existentiellen Grundgestimmtheit.

Fazit: Gott ist uns offenbar und verborgen und manchmal beides zugleich. Mit unserer zweiwertigen Logik lässt sich die Begegnung mit ihm nicht fassen. Und das Thema seiner Verborgenheit wird auf der Ebene unserer rein begrifflichen Überzeugungen kaum abschließend zu beantworten sein.

Dem würde allerdings auch Schellenberg zustimmen. Wie überhaupt die menschliche Geistesgeschichte für ihn alles andere als abgeschlossen ist. Im Gegenteil – betrachtet man die Tatsache, dass unser Planet voraussichtlich (wenn wir ihn nicht vor der Zeit zugrunde richten) noch eine Milliarde Jahre bewohnbar sein wird, steht diese Geschichte möglicherweise erst ganz am Anfang, und die Religionsgemeinschaften artikulieren bislang lediglich eine evolutionäre Vorstufe unserer Vorstellungskraft. Die Überzeugung von der Personalität Gottes wäre dann eine nur vorläufige Hervorbringung menschlicher Religiosität, die durch eine nicht-theistische Intuition des Göttlichen abgelöst werden kann.

Schellenberg nennt diese Intuition „Ultimismus“ (ultimism). Sie (nicht ein areligiöser Naturalismus!) ist seine Alternative zum personalen Theismus. Schellenberg meint, jene Intuition könne uns die Freiheit zur Suche nach dem Göttlichen geben, die intensiver ist als alles, was die monotheistischen Religionen zuvor darzustellen vermochten. Und ich gebe zu, dass mich diese Perspektive auf den religiösen Glauben fasziniert, die sich nicht rückwärtsgewandt an Traditionen und Bekenntnissen orientiert, sondern sich ganz auf eine offene, noch unbestimmte Zukunft ausrichtet. Müsste hinter einer Kirche im Transformationsprozessnicht ein mutiger und kraftvoller fides semper reformanda stehen?

Ob das hiddeness argument allerdings tatsächlich einen evolutionären Fortschritt darstellt, ist keineswegs ausgemacht. Jedenfalls vollzieht sich kein Fortschritt ohne Herkunft. Und vielleicht ist Schellenbergs Intuition ja doch längst schon in den jüdischen und christlichen Überlieferungen enthalten. Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland, schrieb der zweite Jesaja (Jesaja 45,15) im 6. Jahrhundert vor Christus. Bis heute inspirieren er und die anderen Autoren der Bibel jüdische und christliche Menschen auf ihrer Suche nach dem lebendigen Gott, der ihnen den Weg in seine Zukunft weist.

Seien Sie behütet!

Martin Fricke.

Die Diskussion um John L. Schellenbergs Argument ist zusammengefasst in dem von Georg Gasser, Armin Kreiner und Veronika Weidner herausgegebenen Band Verborgenheit Gottes. Klassische und aktuelle Beiträge aus Theologie und Religionsphilosophie, Stuttgart 2020.

Ein Kommentar

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