Macht es Ihnen etwas aus zu warten?
An der Bus- oder Straßenbahnhaltestelle, wenn eine Bahn einem gerade vor der Nase weggefahren ist. Oder wenn ein Bus ausfällt, warum auch immer. Oder sind Sie genervt, wenn es in der Schlange bei der Post nicht weitergeht, weil die Person, die gerade am Schalter ist, lauter komplizierte Sonderwünsche hat, die elend lange dauern und daher den ganzen Betrieb aufhalten? Oder hassen Sie es, beim Arzt zu warten, wenn der ursprünglich vereinbarte Termin, zu dem Sie bestellt waren, längst verstrichen ist? Werden Sie ungeduldig, wenn mehrere Personen im Supermarkt vor Ihnen an der Kasse sind und sich beim Auflegen und Einpacken der Waren richtig Zeit lassen, womöglich dann auch noch ein Gespräch mit der Kassiererin anfangen?
Einmal ehrlich: Wer wartet schon gern. Wir sind es gewohnt, dass alles zügig vorangeht. Dass wir pünktlich an der Reihe sind und sofort bedient werden. Dass unsere Wünsche ohne Verzögerung in Erfüllung gehen. Dass das, was wir geplant haben, möglichst schnell in die Realität umgesetzt wird. Warten? Das haben wir nicht nötig. Wir haben in unserer modernen und optimierten Gesellschaft einen Anspruch darauf, dass wir nicht warten müssen. Warten wäre schließlich nur lästig und eine echte Zumutung. Im Übrigen eine absolute Zeitverschwendung.
In der Corona-Pandemie, die vor einem Jahr über uns gekommen ist, sind diese Ansprüche auf einmal nicht erfüllbar. Sie sind fern jeder Realität. Wir müssen mit einem Mal auf vieles, ja auf sehr vieles warten. Auf genügend Impfstoff für alle, für Alte und Junge, für Kranke und Gesunde, für stark Gefährdete und weniger Gefährdete. Darauf, dass wir nicht mehr mit der großen Sorge, ja Angst leben müssen, wir könnten uns mit dem Coronavirus anstecken und schwer erkranken oder sogar jämmerlich daran zugrunde gehen.
Warten müssen wir auch auf das Wiedersehen mit Freundinnen und Freunden, mit Verwandten und guten Kolleginnen und Kollegen. Schon seit vielen Monaten haben wir den einen oder die andere nicht mehr getroffen. Die Kontaktbeschränkungen oder die verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen haben das unmöglich gemacht. Sicher, man telefoniert, chattet oder unterhält sich über die verschiedenen digitalen Formate. Das ist zwar schön, aber doch etwas anderes, als wenn man sich richtig trifft – so wie das vor der Pandemie war.
Letztlich warten wir alle auf normale Zeiten, auf ein normales Leben, so wie wir es jahrein, jahraus geführt haben. Und dieses Warten fällt den allermeisten richtig schwer. Zumal wir nun schon über ein Jahr lang warten. Schwer ist das besonders deshalb, weil wir das Warten verlernt haben. Und dann sind es in der Pandemie jetzt so lange Zeiten des Wartens, bis sich etwas ändert, bis die Lage wieder besser wird. Wir müssen das Warten also wieder lernen, zwangsläufig. Das ist richtig mühsam. Vielleicht gehört das Warten zum Leben aber auch dazu. Vielleicht wäre es gut, wenn man sich nicht so gegen das Warten aufbäumt. Wenn man versucht, es einfach anzunehmen. Einfach gelassener zu werden – beim Warten. Nach der langen Zeit des Wartens, dann, wenn die Pandemie abklingt, werden wir das normale Leben wieder schätzen. Wir werden merken, dass ein normaler Alltag keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein Segen und Grund zur Dankbarkeit. Vielleicht wird uns das lange Warten verändern. Vielleicht haben wir dann einen neuen Blick auf die Welt und auf unser Leben.