Was ist eigentlich Islamismus?

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Vorne eine Religion, hinten ein „-ismus“, wo gibt’s das sonst? Einige Religionen lässt die deutsche Sprache auf „-ismus“ enden, so den Buddhismus, Hinduismus, Jainismus, Konfuzianismus, Taoismus oder Schamanismus. Der Islam kommt ohne diese Endung aus; erhält er sie dennoch, wird damit vor allem seit den achtziger Jahren der Extremismus von Musliminnen und Muslimen bezeichnet. Diese Begrifflichkeit begann offenbar kurz nach der Entführung der „Landshut“ nach Mogadischu (1977) populär zu werden, vgl. https://alexanderlasch.wordpress.com/2013/01/15/islamismus-islamisten-eine-kurze-begriffsgeschichte/

In dieser Form gibt es das nur beim Islamismus. Niemand käme niemand auf die Idee, den burmesischen Obergeneral und Präsidenten Than Shwe, der wesentlich mitverantwortlich war für die Ermordung und Vertreibung muslimischer Rohingya war und eine national-buddhistische Ideologie vertrat, einen Buddhismutisten zu nennen. Auch fürs Christentum duldete die deutsche Sprache keine Anhänge. Zwar gibt es terroristische Ku-Klux-Klan Anhänger, die zu den WASPs („White Anglo-Saxon Protestants“) gehören. Doch vermeidet man etwaige Sprachungeheuer wie Christentumisten oder Christisten. Den deutschen Begriff „Judaist“ hingegen gibt es. Er bezeichnet einen Menschen mit einem Universitätsabschluss für jüdische Studien. Der englische Begriff „judaism“ bezeichnet die jüdische Religion und das ihr zugehörige Studienfach.  Englisch „islamism“ entspricht allerdings deutsch „Islamismus“.

Weil man „Islamismus“ leicht mit „Islam“ verwechseln kann, vermeide ich den Begriff lieber und spreche lieber von muslimischem Extremismus. Dennoch kommt es mir mehr auf die Inhalte als auf die Sprachform an. Der bayrische Verfassungsschutz grenzt auf seiner homepage „Islamismus“ und „Islam“ voneinander ab: „Unter Islamismus ist eine vom Islam zu unterscheidende, sich auf die Religion des Islam berufende Form des politischen Extremismus zu verstehen.“ Der Sache nach finde ich das nachvollziehbar, klar und präzise.

Der Verfassungsschutzbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz von 2019 grenzt Islamismus nicht in derselben Schärfe vom Islam als Religion ab. Er scheint es allerdings ähnlich zu meinen und benutzt eine ähnliche Definition:  

Der Begriff „Islamismus“ bezeichnet eine Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf den Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab. Der Islamismus basiert auf der Überzeugung, dass der Islam nicht nur eine persönliche, private „Angelegenheit“ ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung bestimmen oder zumindest teilweise regeln sollte. Der Islamismus postuliert die Existenz einer gottgewollten und daher „wahren“ und absoluten Ordnung, die über den von Menschen gemachten Ordnungen steht. Mit ihrer Mit ihrer Auslegung des Islam stehen Islamisten insbesondere im Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der Trennung von Staat und Religion, der freien Meinungsäußerung und der allgemeinen Gleichberechtigung. Ein wesentliches ideologisches Element des Islamismus ist außerdem der Antisemitismus.

Demnach sieht auch das Bundesamt im „Islamismus“ eine Form des politischen Extremismus. Als Islamisten gelten diejenigen, die die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesrepublik ganz oder teilweise abschaffen wollten, die die Grundsätze der Volkssouveränität, der freien Meinungsäußerung und der Gleichberechtigung (von Mann und Frau) ablehnten und antisemitischen Ideologien anhingen.  

Das sind nachvollziehbare Kriterien, die sich auf Grundsätze des Grundgesetzes berufen, die auch mir wichtig sind. Aus der Klamottenkiste des neunzehnten Jahrhunderts stammt allerdings die Vorstellung, dass Religion Privatsache sei. Sie wäre allenfalls vor dem Hintergrund der laizistischen Verfassung Frankreichs vertretbar, findet sich aber weder wörtlich, noch sinngemäß im Grundgesetz. Dort steht nur, dass die bis 1918 geltende enge Verbindung zwischen Staat und Kirche aufgehoben bleibt („Es besteht keine Staatskirche“). Weil Kirche nicht identisch mit Religion ist, zieht die Trennung des Staates von der institutionellen Kirche keineswegs automatisch die Trennung von Staat und Religion nach sich. Religiöse Gruppen, auch die institutionell verfassten Kirchen, sind Teil der deutschen Gesellschaft. Eine Kirche, in der öffentlich gepredigt wird, wird ihre Predigten schwerlich als „Privatsache“ ansehen können. Auch jede päpstliche Enzyklika, jede EKD-Denkschrift, jeder Kirchentag und jedes ad-hoc-statement von Präsides, Bischöfinnen oder Bischöfen für die Fernsehkameras richtet sich an die innerkirchliche und außerkirchliche Öffentlichkeit. Mit ihren Stellungnahmen treten die Kirchen als ein Verband unter anderen auf (theologisch zum Thema: Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit 1973, 533ff). Die Kirchen melden ihre Wünsche und Forderungen an, fordern den Staat auf, dieses oder jenes zu tun oder zu unterlassen und unterscheiden sich darin in politologischer Hinsicht nicht prinzipiell von anderen Verbänden wie den Gewerkschaften, dem Deutschem Sportbund, dem ADAC oder dem Verband der Brieftaubenzüchter. Ich sehe kein Problem darin, wenn in diesem vielstimmigen Konzert auch die muslimischen Verbände mitreden. Das heißt natürlich nicht, dass ich mit jedem ihrer Vorschläge einverstanden wäre. Was ich von muslimischen Verbänden (ebenso wie von allen anderen) erwarte ist, dass sie Andersgläubige ebenso wie Nicht-Gläubige respektieren, auch deren Wünsche achten und sich kompromissbereit zeigen. Sie sollten argumentieren. Auch müssen sie verlieren können, wenn der Staat nicht so reagiert, wie sie es gerne hätten. Doch ihre Religion zur Privatsache erklären müssen sie nicht. Sie müssen auch nicht intern durch ihre „Basis“ demokratisch organisiert sein. Zwar würde ich das für gut und wünschenswert halten, doch besitzt die katholische Bischofskonferenz auch keine demokratische Legitimation durch ihre „Basis“ und der ADAC nur sehr teilweise. Anders Taubenzüchterverband und EKD.

Völlig zu Recht gilt die Anwendung physischer Gewalt jedem Verfassungsschutzbericht als schlimmster Fall von Extremismus.  Für politisch motivierte Kriminalität sind im Rechtsstaat die Polizei und die Strafjustiz zuständig. Hier eine Zehn-Jahres-Statistik nicht nur für Gewalt, sondern auch für sonstige Verbrechen politisch motivierter Kriminalität:

https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/pmk-2019.pdf?__blob=publicationFile&v=8

Bei „PMK“ handelt es sich um ein Kürzel für „Politisch Motivierte Kriminalität“. Bis zum Jahr 2016 erfasste das Bundeskriminalamt islamistisch motivierte Kriminalität unter PMAK („Politisch motivierte Ausländerkriminalität“), seither differenziert man zwischen „ausländischer Ideologie“ (z.B. kurdischer Nationalismus) und „religiöser Ideologie“ (z.B. islamistisch). 2019 machte demnach die auf religiösen Ideologien beruhende politische motivierte Kriminalität gut 1 % der extremistisch motivierten Straftaten aus, während die auf ausländischer Ideologie beruhende Kriminalität knapp 5 %, die auf (inländischen) rechtsextremistischen Ideologien beruhenden Straftaten 54 % der Fälle ausmache. Nach einer Angabe des Bundeskriminalamtes gegenüber dem Tagesspiegel wurden zwischen 2011 und 2019 in Deutschland 17 Menschen durch islamistisch motivierte Gewaltanwendung getötet, davon zwölf im Jahr 2016 am Breitscheidplatz, die anderen fünf über die Jahre verteilt. Der aktuelle Verfassungsschutzbericht des Bundes gibt an: „Im Jahr 2019 wurden 13 Tötungsdelikte registriert. Es handelte sich dabei um zehn versuchte und drei vollendete Delikte. Davon wurden sieben dem Phänomenbereich PMK -rechts-, zwei dem Phänomenbereich PMK -links-, eines dem Phänomenbereich PMK -ausländische Ideologie-, zwei dem Phänomenbereich PMK -religiöse Ideologie- und eines dem Phänomenbereich PMK -nicht zuzuordnen- zugerechnet“.

Jede politisch motivierte Straftat, insbesondere jedes versuchte oder vollendete Tötungsdelikt ist eines zu viel. Es besteht kein Grund, irgendeine Straftat zu verharmlosen. Dennoch fällt auf, dass 1 % islamistisch motivierter Straftaten im Vergleich zu 99 % anders motivierten politischen Straftaten in der Öffentlichkeit eine unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit finden.

Wer Muslim oder Muslimin ist und eine auf religiöser Ideologie begangene Straftat begangen hat, ist definitiv und zweifelsfrei Islamist im Sinne der Statistik. Der Verfassungsschutz arbeitet allerdings präventiv. Er darf beobachten, hat keine polizeilichen Befugnisse, soll bei akuter Gefahr die Polizei informieren, muss ihr (resp. der Staatsanwaltschaft) dann aber das Handeln überlassen. Daraus ergibt sich: Statistiken des Verfassungsschutzes erfassen nicht nur geschehene Straftaten, sondern auch das Personenpotenzial, das zu politisch motivierter Kriminalität führen könnte, schwieriger abzugrenzen, weil die Zukunft ungewiss ist und auch der Verfassungsschutz vorher nicht wissen kann, ob und wo es zu Straftaten kommt.  

Der Verfassungsschutz definiert Extremisten als Menschen, deren ideologische Ausrichtung dergestalt ist, dass sie ihrer Ideologie wegen Straftaten begehen könnten. Extremisten dürfen mit geheimdienstlichen Methoden beobachtet werden. Mutmaßungen reichen für diese Einstufung allerdings nicht. Es müssen „tatsächliche Anhaltspunkte“ für Extremismus vorliegen. Einerseits müssen diese Anhaltspunkte öffentlich zugänglich sein, andererseits handelt es sich nicht um einen Schuldspruch. Das ist mehr als raten, aber weniger als ein Beweis. Verfassungsschutzberichte referieren öffentlich einige Ergebnisse ihrer Beobachtungen und müssen dabei gerichtsfest formulieren. Klagen gegen Verfassungsschutzberichte sind sie bis in die jüngste Vergangenheit hinein immer wieder mal erfolgreich gewesen. Das ist äußerst peinlich für den jeweiligen Innenminister. Meinem Eindruck nach bemüht man sich, das zu vermeiden. Manche Formulierungen lassen juristisch sorgfältiges Korrekturlesen erkennen: Keine unnötigen Blößen!   

Das Bundesamt und die sechzehn Landesämter für Verfassungsschutz stellen jährlich jeweils einen Bericht vor. Verantwortet werden sie vom jeweiligen Innenminister, einem Mann, bisher keiner Frau, der entweder der CDU/CSU oder der SPD angehört (Ausnahmen: Die FDP-Bundesinnenminister der achtziger Jahre, die Hamburger Innensenatoren der „Schill-Partei“ von 2001 bis 2004).   Ein Wechsel an der Ministeriumsspitze verändert meinen Erfahrungen nach die Verfassungsschutzberichte nicht sofort, sondern erst mit ein oder zwei Jahren Verzögerung. Meinem Eindruck nach bemüht man sich, Verfassungsschutzberichte nicht oder nicht zu sehr zum Spielball der Parteitaktik zu machen. Dennoch glaube ich manchmal die Handschrift des Ministers, des Verfassungsschutzpräsidenten und seiner Partei zu erkennen. Das ist wohl auch realistisch. Bei aller juristischen Absicherung bewegen wir uns nicht im politikfreien Raum.

Der aktuelle Verfassungsschutzbericht des Bundesamtes (2019) erfasst neben den begangenen Straftaten auch „Mitgliederpotenziale“ für die verschiedenen Extremismen, „geschätzt und gerundet“. Das Rechtsextremismuspotenzial betrage 32 080 Personen, davon 20 000 „gewaltorientiert“, das Linksextremismuspotenzial 33500, davon 9200 „gewaltorientiert“, das „Personenpotenzial nicht islamistischer sicherheitsgefährdender beziehungsweise extremistischer Ausländerorganisationen“ betrage 28.820 (Gewaltorientierung nicht erfasst). Das Islamismuspotenzial betrage 28.020 Personen (Gewaltorientierung ebenfalls nicht erfasst). Mehr als die Hälfte der Islamisten wird dem „legalistisch“ genannten Spektrum zugerechnet, das Gewaltanwendung explizit ablehne. Beim Rest wird die Gewaltfrage nicht abschließend geklärt.

Demnach existieren vier, ihrem „Personenpotenzial“ zufolge fast gleichgroße Extremismusgruppen, unter denen die islamistische mit 23% die relativ kleinste ist. Dieser Gruppe wird aber nur 1% der tatsächlich begangenen politisch motivierten Straftaten zugeordnet. Deshalb liegt für mich die Vermutung nahe, dass die Sensoren des Verfassungsschutzes bei der Ortung islamistisch motivierter „Extremismuspotenziale“ besonders heftig ausschlagen, während sie bei rechtsextremistisch motivierten Potentialen traditionell träge reagieren („auf dem rechten Auge blind“). Dies würde auch erklären, warum das Bundesamt für Verfassungsschutz glaubt, dass es mehr Links- als Rechtsextremisten gebe, obwohl mehr als doppelt so viele rechtsextremistisch motivierte wie linksextremistisch motivierte Straftaten registriert werden. Zwar erscheint es möglich, dass eine vergleichsweise kleine Zahl Rechtsextremisten die Statistik dadurch verdirbt, dass sie als unerkannte Serientäter eine Straftat nach der anderen begehen, während andere Extremisten, insbesondere islamistische Straftäter, immer gleich geschnappt würden. Dennoch halte ich es für ausgeschlossen, dass sich die ungeheuren Unterschiede zwischen dem „Personenpotenzial“ verschiedener Extremismen und den tatsächlich begangenen Straftaten allein durch unterschiedliche Aufklärungsraten erklären ließen.

Für eine „teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“ müsste der muslimische Extremismus entweder Gewalt anwenden oder Wahlen gewinnen. Dass die „Islamisten“ gleich im ersten Wahlgang auf 22 % der Stimmen kommen, geschieht im Roman (Michel Houellebecq, Unterwerfung), entspricht jedoch nicht ansatzweise der Demographie, weder in Frankreich noch in Deutschland. Es handelt sich um gern verbreitete Horrormärchen, realitätsfern, wenn auch bei Houellebecq stilistisch elegant formuliert.  Den demographischen Verhältnissen nach bliebe der ‚Islamismus‘ in Deutschland, sofern er bei Wahlen überhaupt anträte, weit unterhalb der 5 % Hürde und würde auch die 1 % Hürde, die man bei Bundestagswahlen für eine Wahlkampfkostenerstattung benötigte, nicht nehmen können. Für eine (schein-)legale ‚Machtergreifung‘ durch Wahlen reicht das nicht, für Terrorismus hingegen schon. Im Grunde bedarf es nur einiger Dutzend Terroristen, um eine Menge Terror zur verbreiten. Dass der 2006 in einen Koffer in einem Zug nach Köln gestellte Sprengsatz nicht explodierte, ist der technischen Inkompetenz des „Kofferbombers“ geschuldet. Die Explosion einer Bombe in einem vollbesetztem Regionalzug hätte abertausende Tote nach sich ziehen können. Dann sähe auch die Statistik anders aus.  

Vermutlich haben wir in Deutschland auch Glück gehabt. Bisher jedenfalls ist durch religiöse Ideologie motivierte politische Kriminalität vergleichsweise selten aufgetreten. Zwar gibt es jede Menge hoch problematischer religiöser Ideologien, dennoch führen sie in der Regel nicht zu Straftaten. Mit erwachsenen Menschen kann man meistens über Ideologien diskutieren und streiten, und sollte das auch tun. Das ist primär eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, auch für die Kirchen, die Moscheevereine, die jüdischen Gemeinden und diverse andere gesellschaftlichen Gruppen, nicht oder zumindest nicht nur des Verfassungsschutzes. Religiös motivierte extremistische Kriminalität besitzt ein ideologisches Vorfeld, zu dem auch Menschen gehören, die selbst vielleicht nie kriminell werden. Es gibt Radikalisierungen in sektiererischen Gruppen. Es gibt Kontakte zwischen rein geistigen Ideologen und tatsächlichen Straftätern, auch ein unentschlossenes Mittelfeld, Querverbindungen oder medial vermittelte Radikalisierung über Satellitenfernsehen oder das Internet. Hier können viele tätig werden, auch Eltern, Nachbarn oder Lehrer, auch Institutionen wie der „Düsseldorfer Wegweiser e.V.“ und andere. Doch auch wenn ein ideologisches Vorfeld existiert, besteht kein Grund dafür, den Islamismus (oder was man dafür hält) wie eine Infektionskrankheit zu behandeln, die über Kontakte Infektionsketten von A über B über C zu D bildet. Falsch ist die Annahme, dass man bei mutmaßlichem Islamismus von A, auch B, C und D ungeprüft unter Quarantäne stellen müsste. Als kirchlicher Veranstalter frage ich mich durchaus, ob ich jede denkbare muslimische Gruppe aufwerten muss, indem ich öffentlich mit ihr auftrete. Ich halte das für eine Abwägungsfrage, die auch gegenüber anderen Gruppen gilt.  Prinzipiell diskutiere ich auch mit den Zeugen Jehovas. Aus pragmatischen Gründen unterlasse ich das aber. Privat ist mir meine Zeit dafür zu schade, beruflich, als Veranstalter, trüge ich (Mit-)Verantwortung für das Mißlingen des Abends. Aus ähnlichen Gründen diskutiere ich auch mit einigen muslimischen Ideologen nicht, obwohl sie sich im Rahmen geltender Gesetze bewegen. 

In den fünfziger Jahren, als noch viele ehemalige SS-Leute  deutschen Sicherheitsorganen angehörten, sah man in gemutmaßten Kommunisten und ihren Kontaktpersonen eine Bedrohung für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Herbert Wehner war einmal Kommunist gewesen; seine Beteuerungen, das sei vorbei, hätten gelogen sein können. Willi Brandt war zwar nie Kommunist gewesen, hatte sich aber durch Emigration nach Schweden und die Mitgliedschaft in diversen sozialistischen Gruppen verdächtig gemacht. Gustav Heinemann hatte zwar die CDU mitbegründet und war als Bundesinnenminister kurze Zeit sogar zuständig für den Verfassungsschutz, trat aber nach Differenzen mit Adenauer über die Wiederbewaffnung zurück, hielt weiterhin Kontakt zu anderen angeblichen Fast-Kommunisten wie Kirchenpräsident Martin Niemöller und wurde noch als Mitglied des EKD-Präsidiums von BND und Verfassungsschutz überwacht. Dass er eine eigene (bald gescheiterte) Partei gründete, die Gesamtdeutsche Volkspartei, war zwar nicht strafbar, führte aber zur Überwachung weiterer Parteivorstände, darunter mit Johannes Rau noch ein späterer Bundespräsident. Und wie erst kürzlich durch die vom BND beauftragte Historikerkommission klar wurde, recherchierte man Anfang der fünfziger Jahre sogar zu Dietrich Bonhoeffer, der als Toter zwar nicht mehr überwacht werden konnte,  doch lose Kontakte zum angeblich orthodox marxistischen Arvid Harnack gehabt hatte (‚Rote Kapelle‘, 1942 gehängt) und 1943 illegale Kontakte zur britischen Regierung aufzunehmen versucht hatte, was man 1951 immer noch als ‚Landesverrat‘ ansah und (heute schwer nachvollziehbar) als Indiz für mögliche kommunistische Spionage wertete (vgl. Gerhard Sälter, Phantome des Kalten Krieges, 2016, bes. S. 389-391).

Während die echte kommunistische Partei, die KPD, an Stimmen verlor (Reichstagswahlen 1932: 16,9, Bundestagswahlen 1949: 5,7%, Bundestagswahlen 1953: 2,2%) und bald aus dem Bundestag flog, wuchs die gefühlte Bedrohung selbst nach dem KPD-Verbot (1956) weiter an. Bald lebten im Westen mehr Flüchtlinge aus der „Zone“ als überzeugte KPD-Anhänger. Dennoch glaubte man, eine winzige Zahl Kommunisten habe eine große Zahl ihres angeblichen Umfeldes infiziert. Diese Denkungsart war damals falsch, und wird heute auch nicht besser, wenn man sie auf Islamisten statt auf Kommunisten anwendet. Eine ganze Reihe Verfassungsschützer sieht das übrigens auch so, und zieht auch Konsequenzen daraus.  Der Kalte Krieg gilt heute vielen als abschreckendes Beispiel für das, was man als Geheimdienst falsch machen konnte, und das Verhalten des FBI in der „Mc-Carthy-Ära“ wird nur noch von sehr wenigen verteidigt. Gleichwohl war die Auslandsspionage der Stasi eine reale Bedrohung, ähnlich wie heute der religiös-islamistisch motivierte Terrorismus. Weder Spionen noch Terroristen sieht man an, dass sie welche sind.

Sollten Sie in sozialen Netzwerken etwas über angeblichen Islamismus einer bestimmten muslimischen Gruppe lesen, möchte ich dazu ermuntern, sich in den aktuellen Verfassungsschutzberichten zu vergewissern. Sie sind online zugänglich und ohne besondere Vorkenntnisse zu verstehen. Manch Innenminister und Verfassungsschutzpräsident nutzt die jährliche Vorstellung eines neuen Berichtes zur Selbstdarstellung und präsentiert sich selbst als den starken Mann, der sich den immer schlimmer werdenden Verhältnissen tatkräftig entgegenstellt: Ich oder das Chaos. Von der Presse wird das manchmal zugespitzt referiert und das seinerseits auf Facebook in zwei oder drei polemischen Sätzen zusammengefasst. Am Ende ist von der ursprünglichen Aussage ebenso wenig übrig wie beim Kinderspiel Stille Post. Liest man das Original, stellt man sehr oft fest, dass die Verfassungsschutzberichte die Verhältnisse vergleichsweise sorgfältig und besonnen schildern und die massiven Verzerrungen oft durch die Rezeption erfolgen. Zwar gehöre ich nicht zu denjenigen, die Verfassungsschutzberichte für der Weisheit letzten Schluss halten. Gleichwohl halte ich sie sie für viel besser als ihren Ruf, insbesondere für sehr viel differenzierter als manche Kurzzusammenfassung, bei der die eigene („islamkritische“) Meinung mit der „des Verfassungsschutzes“ (1 Bundesamt, 16 unabhängige Landesämter) verwechselt wird.

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