„Wenn sie Ihnen erst abgeschleppt haben“

Zwangsarbeit und ‚Judenstern‘ kurz vor der Deportation

von Dr. Uwe Gerrens

von Dr. Uwe Gerrens

Die folgenden Berichte stammen aus dem Jahr 1942, der Zeit der Deportationen, aus „B“., wohl Berlin. Der Briefempfänger lebte in der Schweiz. Es dürfte sich um Adolf Freudenberg gehandelt haben, Referent für Flüchtlingsarbeit beim Weltkirchenrat in Genf. Als Spross einer sehr wohlhabenden badischen Unternehmerfamilie war Freudenberg bis 1935 Legationsrat im Auswärtigen Amt gewesen und reichte die Kündigung ein, weil seine Frau Christin jüdischer Abstammung war. Daraufhin studierte er Theologie in Bethel und an der illegalen Kirchlichen Hochschule der Bekennenden Kírche in Berlin, offiziell eingeschrieben an der staatlichen Friedrich-Wilhelms Universität (heute Humboldt U.). Er flog 1937 auf, erhielt Studienverbot für Deutschland, und studierte weiter in Basel bei Karl Barth. Kurz nach der ‚Reichskristallnacht‘ wurde er vom Rat für Praktisches Christentum eingestellt und floh mit seiner Familie.

Freudenberg hatte der Dahlemer Gemeinde der Bekennenden Kirche angehört und kannte viele von ihnen persönlich. Als ehemaliges Mitglied des Auswärtigen Amtes blieb er einer Reihe ehemaliger Kollegen verbunden; einige davon nahmen per Diplomatenpost Briefe in die Schweiz mit. Auch Bonhoeffer hat ihn mehrfach in der Schweiz besucht. Leider hat Freudenberg 1943, als man in der Schweiz einen Einmarsch der Deutschen befürchtete, vieles verbrannt, um seine Korrespondent:innen in Deutschland nicht zu gefährden. Seine wichtigste Korrespondenzpartnerin war Gertrud Staewen, die auch Zugriff auf sein deutsches Konto hatte, auf das immer noch Pensionszahlungen des Auswärtigen Amtes eingingen. Staewen arbeitete ab 1942 halbtags illegal in der Unterstützung von Jüd:innen und nicht-‚arische‘ Christ:innen. (Über sie gibt es eine Biographie von Marlies Flesch-Thebesius, über den Kaufmann-Kreis, der Pässe und Lebensmittelkarten fälschte und Jüd:innen bei der Flucht half, bis er 1943 aufflog gibt es mehrere Darstellungen).

Bisher musste man davon ausgehen, dass die Briefe, die über Staewen in die Schweiz geschmuggelt wurden, verloren sind. Doch fand ich im Archiv des Weltkirchenrates anonymisierte Abschriften, die Freudenberg an verschiedene Menschen verschickte, u.a. an Gerhart Riegner vom jüdischen Weltkongress und Richard Lichtheim von der Jewish Agency. Auf einer der Abschriften steht handschriftlich am Rand „Von Herrn Dr. v. Hft., Germany“, womit Hans Bernd von Haeften gemeint sein dürfte, der im Auswärtigen Amt arbeitete, nach Genf reisen konnte und später im Zusammenhang mit dem 20. Juli ermordet wurde. In einem Begleitschreiben an Riegner für einen anderen Brief schrieb Freudenberg, der Brief sei „durch unsere Korrespondentin in Berlin“ an ihn gelangt. Hierbei handelte es sich ziemlich sicher um Gertrud Staewen. Sie dürfte die Briefe also an jemandem vom Auswärtigen Amt gegeben haben, der sie nach Genf mitnahm. Von wem sie stammen, ließ sich nicht ermitteln, aber offensichtlich von einer älteren und einer jüngeren Christin jüdischer Abstammung. Sie wurden verfasst, während eine Deportation nach der anderen von Berlin in den Osten stattfand. Beide Frauen dürften später selbst deportiert und ermordet worden sein, aber näheres ließ sich in Ermangelung ihrer Namen nicht ermitteln. Insgesamt handelt es sich um sehr besondere Dokumente, weil derartige Briefe sich nur selten erhalten haben.

den 22.4.1942

… Ich will zunächst versuchen, Euch ein Bild meines jetzigen Lebens zu machen. Seit dem Dezember bin ich als Arbeiterin (Packerin) in einer riesengroßen chem. Fabrik tätig. Ich stehe kurz nach 5 Uhr auf und verlasse mein Heim kurz nach 6 Uhr – 10 Min. vor 7 muss ich an meinem Arbeitsplatz sein. Ich esse morgens irgendwie eine dicke Suppe und etwas Brot, da ich sonst zu früh hungrig werde, und nur genau eingeteilt Schnitten mitnehmen kann. Einmal haben wir eine Viertelstunde Frühstückspause, mittags dagegen eine halbe Stunde, die ich zur Hälfte zum Essen, des Weiteren zum Schlafen benutze. […] Um ¼ 3 Uhr (Sonnabend ¼ 2 Uhr) ist Schluss, sodass ich ungefähr um 5 Uhr daheim bin. Im Winter machten wir Überstunden, da musste ich um ½ 6 Uhr von zu Hause fort und kam erst um ¾ 6 zurück. Aber die Kälte, die Dunkelheit, der Kampf um das Mitkommen in der Straßenbahn haben mir nicht geschadet; auch das frühe Aufstehen macht mir rein gar nichts aus. […]. Über sechs Stunden […] Schlaf komme ich fast nie, denn der Haushalt will doch sein Recht haben, den ich doch nebenbei ganz allein bewältige. Denkt nicht, dass ich die Reinlichkeit übertreibe, aber auch das Notwendigste ist eigentlich zu viel. Bisher hat Tante … mir fast alles eingeholt, aber nun tut sie es nicht mehr, teils aus Sorge um ihre Existenz, teils ist es ihr wohl auch zu viel, denn sie muss ja auch mitunter, um etwas zu bekommen, anstehen noch und noch, ich verdenke es niemand, der sich nicht mehr in dieser oder jener Weise für mich einsetzen will, der Wind weht zu scharf. Ich bin sehr froh, dass ich im Allgemeinen niemanden brauche, nur Liebe und ein freundliches Gedenken. Mein … setzt sich natürlich für mich ein, ich habe Euch ja schon mehrmals mitgeteilt, dass ich wohl kaum mehr am Leben wäre, wenn ihre Treue und Tatkraft mich nicht noch einmal gerettet hätte. Der alte Stamm meiner Freunde ist mir ja fast vollzählig treu geblieben. Und dass ich meine Wohnung (unberufen!!!) noch habe, um die der Kampf jetzt ein Jahr geht, empfinde ich wie ein Wunder in täglich neuer Dankbarkeit. Ihr könnt es nicht ermessen, welche Zustände in dieser Beziehung hier ganz an der Tagesordnung sind! Natürlich bin auch ich längst (nicht vom Hauswirt) sondern von öffentlicher Seite aus gekündigt, kann jede Stunde ohne weiteres rausgesetzt werden, aber an diese Möglichkeiten gewöhnt man sich, denkt kaum weiter als bis zum nächsten Tag.

Doch nun noch einmal zurück zu meiner Firma. Meine Standardtätigkeit ist Ausfüttern (mit Wellpappe) von Ampullenkartons aller Arten, Abbinden und Etikettieren von Flaschen, Riesen von 30 Pfund bis zu kleinen und winzigen. […] Kann ich alles prima!! Die Behandlung ist relativ gut. Fleiß und intensive Arbeit wird verlangt, jede Tätigkeit mit großer Geduld gezeigt. Frau… und ich sitzen als einzige Nichtarierinnen im arischen Saal, allerdings durch gewissermaßen imaginäre Schranken (2 kleine Böcke mit einem kennzeichnenden Pappschild hüben und drüben) gesondert. Natürlich werden diese Schranken, wenn die Arbeit, resp. die Bequemlichkeit es tunlich erscheinen lässt, rücksichtslos beiseite geschoben. Ich muss immer an das Rüpelspiel im Sommernachtstraum [Shakespeare] denken „o Wand, o Wand, o rabenschwarze Wand‘ dargestellt durch 2 auseinandergespreizte Finger! […]

Unsere Meisterin allerdings fühlt sich ab und zu verpflichtet, mit nicht gerade feinen Randbemerkungen unser Leben zu würzen. Da das meist ohne besonderen Anlass plötzlich hervorbricht, ist mir wahrhaftig schon oft der Gedanke gekommen, es wird dies von oberer Stelle von ihr gefordert. Das ist durchaus nicht ganz abwegig. In Einzelfällen ist sie(oder gibt sie sich) sehr nett und teilnehmend, sodass es etwas düster bleibt, was eigentlich ihr wahres Gesicht ist. Dass wir natürlich jedem Kommando, auch des kleinsten Lehr- oder Laufmädchens, Folge zu leisten haben, ist selbstverständlich; eine ist da, 21 Jahre alt, menschlich anscheinend auf immer ein Embryo, geschäftlich in ihrem Bereich äußerst helle. Das ist meine, mir auferlegte Zuchtrute, sie liebt mich nämlich oder meine geduldige Bereitwilligkeit, und täglich von ½ 3-4 Uhr zitiert sie mich zu ihrer Assistenz. Oft verlässt sie sich bei manchen Verrichtungen ganz auf mich und plaudert lieber derweil. Als neulich einer der älteren Arbeiter sie sanft anstieß, mich als ältere Frau nicht alles allein packen zu lassen, sagte sie hoheitsvoll: Dazu habe ich ja meine Leute! Sie fühlt instinktmäßig, dass sie nicht für ganz voll gilt und reagiert ihre Minderwertigkeitskomplexe als kleiner Sklavenvogt entsprechend ab. Kurz nachher sagte sie jammernd zu mir: „Ach, Frau B., was soll ich bloss anfangen, wenn sie Ihnen erst abgeschleppt haben.“ Worauf ich ihr toternst erwiderte: „Ja, sehen Sie, über diese Frage habe ich schon die letzten Nächste schlaflos mir den Kopf zerbrochen.“

Draus könnt ihr entnehmen, wie vollkommen außerhalb meines persönlichen Lebens oder Empfindens ich das alles betrachte. Es ist mir, als ob da ein ganz anderer Mensch für mich arbeitet und erlebt. Mein eigenstes Wesen steht daneben und schaut aus der Vogelperspektive all dies merkwürdige Geschehen an. […] Wenn ich die Herren Landgerichtsräte, Professoren, Künstler usw. als Hausknechte und Packer in entsprechend zerfetztem Gewande sehe, werde ich nur in dieser Einstellung bestärkt, die die einzig erträgliche ist, im Übrigen völlig automatisch bei mir einsetzend. [… ]

Alle Menschen oder fast alle nehmen zusehends ab, entsprechend natürlich die Leistungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Krankheit und sonstige Anfechtungen, die für uns in letzter Zeit eine dauernde Erscheinung bilden. Ich persönlich werde durch … und sonstige mir zugetane liebe Menschen auch in punkto Ernährung gestützt, aber schließlich hat ja jeder stark mit sich selbst zu tun. … opfert sich rein auf für mich und …, der auch sehr zusammengeschnurrt ist, aber nicht so sehr wie ich. Ihr würdet mich unvorbereitet kaum wiedererkennen, wenngleich ich organisch außergewöhnlich gesund sein muss, das sage ich mir selbst.

Die furchtbaren Wintermonate, die hinter mir liegen, will ich nicht mehr eingehend schildern, genug, dass ich sie mit täglichen Todesängsten durchlebt habe. Wenn ich schon ganz auf das  Letzte vorbereitet, dennoch im letzten Moment gerettet wurde, so ist das nur der aufopfernden Treue und Tatkraft von … zu danken. Leider darf ich nun nicht hoffen, dass die Gefahr dauern gebannt ist, wir müssen uns damit vertraut machen, dass uns über kurz oder lang das Schicksal ereilt, das Abwanderung heißt. Das dieses Schicksal sich nach Lage der Dinge hier, das heißt dem Mangel auf allen Gebieten, immer ernster gestaltet, ist natürlich. Den zuletzt Evakuierten [vermutlich ins Warschauer Ghetto] hat man außer dem, was sie am Leibe trugen, nichts gelassen oder fast nichts. Sie schreiben, sobald sie dazu im Stande sind, erschütternde Notzeilen: Schickt, schickt! Was man nur an bestimmte Orte hin in ganz kleinen Quantitäten bewerkstelligen kann; ob es ankommt, ist fraglich. Die hygienischen Verhältnisse und Wohnverhältnisse sind zum Teil schaurig. Eure alte Bekannte … schrieb kürzlich hier an ihre Schwester, dass sie fürchterlich lebendes Inventar [Läuse, Wanzen etc.] haben, zu 6 Menschen in einem Raum hausen, auf einem Holzgestell liegen, ohne Kissen, ohne Decke, mit einem Mantel zugedeckt, natürlich nicht entkleidet. Von anderen Bekannten hörte ich, dass sie glücklich waren, einen alten Kochtopf gefunden zu haben, den am 20 Min. entfernten Brunnen täglich scheuern, da sie sich auch darin waschen! Und das ist nun Sommer, wie mag der Winter sein! Ohne auch nur bescheidenen Anforderungen entsprechende Nahrung, ohne Reinlichkeit, ohne wärmende Sachen. Viele werden das nicht lange überleben. Viele sind schon jetzt tot oder verschollen. Einzelne treffen es vielleicht erträglich hier und da; aber die Tendenz des Ausrotten-Wollens ist ja oft genug ausgesprochen. Es ist diese Art nur qualvoller als eine gnädige Kugel. – Die Selbstmorde häufen sich, sobald wieder ein neuer Transport in Sicht ist. … Wir alle sind von dieser Bergeslast des Grauens meist so erstarrt in unserm Empfinden, dass wir solch tragisches Geschehen still zur Kenntnis nehmen, ohne Träne, ein wenig bedrückter noch, dann geht es weiter bis ein neuer Schlag kommt. Von … Eltern weiss ich, dass sie schon beim 1. Transport fort sind, nach Lodz, wenigstens aber mit Sohn und Schwiegertochter. Jetzt wird das oft anders gehandhabt. Greise Eltern fortgeschafft, Kinder hiergelassen und umgekehrt! … Uns hier Lebenden wird auch neuerdings so viel Schweres auferlegt, dass man sich wundert, dass man es immer wieder trägt. Erstens mal wisst ihr ja, dass mir das Tragen des gelben Sterns eine immer neue Belastung bedeutet. Man wird nicht oft belästigt, aber zuweilen. Jetzt haben wir auch an der Wohnungsklingel einen weißen entsprechenden Stern anbringen müssen. Eine sehr einschneidende Verordnung bedeutet das Verbot der Benutzung jeglicher Verkehrsmittel, außer auf Antrag für die Arbeitenden die Möglichkeit von und zur Arbeitsstelle in direkter Fahrt, wenn der Weg länger als 7 km lang ist. Ich kann es zum Glück für mich beanspruchen…Nun ist seit Vorgestern eine neue Vorschrift, die nirgends zwar veröffentlicht wird, deren Nichtbefolgung aber sofort strafbar ist, (sie muss von Mund zu Mund verbreitet werden), dass man, d.h. ‚wir‘, gewisse Straßenzüge nicht mehr begehen dürfen. … Ich kann überhaupt nur noch mit 4-5 meiner näherwohnenden Bekannten zusammenkommen. Alle Grünflächen und Parkanlagen sind mir gesperrt. … Auch ein Verbot, Tiere zu halten, steht bevor, was viele schmerzlich treffen wird. (Ist schon erfolgt). Für mich würde eine Verordnung, die auch erwartet wird, und die eine Ausgangssperre von Sonnabendnachmittag bis Montag früh bedeuten würde, sehr schmerzhaft sein. Alltag ist man zu müde, um noch viel zu laufen, sonntags wird man dann alleine zu Hause sein. Auch von einem Verbot, zu korrespondieren, wird gemunkelt…

17.5.1942

… Ich versuche, eine bescheidene Geselligkeit zu pflegen, denn jede sonstige Anregung, selbst das Kulturbundkino und Konzert, Zeitungslesen und Buchentleihen, Spaziergänge außerhalb des Wohnbezirks ist verboten. Da genießt man die kleinen Freuden doppelt: Den morgendlichen Weg zum Bahnhof bei Vogelgezwitscher und Blütenduft in den Vorgärten, die 3 Minuten schmökern während der Bahnfahrt, die kleinen Pausen im Betrieb, den Blick vom Arbeitsplatz auf die grüne Bahnböschung und die Obstgärten dahinter und die Minten des Ausstreckens im sauberen Bett abends. Besonders das letztere ist ein stehts von neuem dankbar und verwundert genossenes Glück. […]

31.5. 1942

… Schreckliche Geschehnisse haben sich wieder ereignet (wie Nov. 38 nicht öffentlich, sondern in der Stille, aber umso schonungsloser und unverständlicher) haben sich wieder ereignet. … Es ist so schlimm, dass uns keine telephonische Verbindung mehr gestattet ist, wir haben sie längst alle verloren, dürfen keine öffentlichen Fernsprecher merh benutzen, zu arischen Bekannten wagt man sich nicht, um sie nicht zu belasten. …

Hier enden die Briefauszüge der Person, die sich mit Freudenberg duzte und vielleicht mit ihm verwandt war, mindestens sehr gut bekannt. Andere Briefe verbreitete er als „Briefe einer jungen Protestantin jüdischer Abstammung“.

Berlin, den 14. Dezember 1942,

Lieber Herr …

Ich schreibe Ihnen heute in tiefster Erschütterung, vor 5 Tagen ist Inge [Jacobson, vormals Chefsekretärin Büro Grüber] evakuiert worden, nachdem vor drei Wochen etwa die Eltern von Inge ganz plötzlich abgeholt wurden, auch Inge wurde damals mitgenommen, blieb aber nur eine Nacht in dem Sammellager, weil sie von ihrer Firma durch Reklamation befreit wurde. Als Inge jetzt auch unvorbereitet abgeholt wurde, galt keine Reklamation mehr, und dieser Zustand scheint zu bleiben. Wir wurden heute früh bei Arbeitsbeginn mit dieser Tatsache überrascht, weil eine ganz Anzahl Kolleginnen fehlten, die gestern urplötzlich aus ihren Wohnungen abgeholt wurden. Jede Minute muss man hierauf vorbereitet sein, und Sie werden sich vorstellen können in welcher Unruhe und Angst der Tag und die Nacht vergehen. Ich weiss, dass man die Angst lernen muss zu überwinden, manchmal gelingt mir dies, aber noch nicht immer. […] Es ist schon ein schweres Leben, dies ständige Gehetztsein wie Freiwild, auf der Straße lauern die Kopfjäger und fangen einen ab, um diese Gefangenen sofort ins Sammellager zu befördern ohne jedes Gepäck. Einen Trost geben viele gute Menschen, die oft rührend sind, um einem dies schwere Los zu erleichtern, und so dankbar wird man für jede Freundlichkeit, für jedes gute Wort.

Meinen Eltern und mir geht es Gottlob noch ganz ordentlich und wir sind für jeden Tag des Beisammenseins dankbar. Vater hat ziemlich abgenommen an Gewicht durch die vollständig Eiweißlose Ernährung, kein Fleisch, keine Eier, keine Milch. Es traf ihn auch am meisten, weil wir ihm eigentlich alles an Fleisch und Eiern gegeben haben. Aber dies alles macht nicht so viel aus bei dem Gedanken „nur hierbleiben zu dürfen“. Möge der liebe Gott uns behüten und weiter in seinen Schutz nehmen. […]

Die Eltern von Lisas junger Freundin Renate [nicht ermittelt] sind im September nach Theresienstadt evakuiert worden und wir hoffen, dass es ihnen einigermaßen gut geht, besonders da der Vater Arzt ist. Wir hoffen, dass es Lisa und Adolf [nicht ermittelt] gut geht… Die beiden werden sich viele Sorgen machen, ohne dass man sie ihnen nehmen kann. […]

Wenn dies mein letztes Lebenszeichen sein sollte, dann bitten wir um Ihr Gedenken, wenn eines Tages Hilfe möglich ist. Wissen Sie einen Weg für uns in die Schweiz zu kommen? Alles Gute und viele herzliche Grüße. […]

15. Dezember 1942 […]

Die augenblicklichen verschärften Maßnahmen der Evakuierung und aller damit zusammenhängenden Dinge erfolgen durch die Wiener dafür in Frage kommende Behörde, die hierher geholt wurden, um schneller ‚aufzuräumen‘ auf so rigorose Art, wie es in Wien geschah [Eichmann und seine Leute waren von Wien nach Berlin geholt worden]. Es überstürzt sich jetzt alles und darum muss sich jeder in Gefahr sehen. Ein Teil der Wiener sind jetzt nach Holland gefahren, um dort auch kurzen Prozess zu machen. Ich fürchte dabei für viele Freunde von uns, die bisher noch verschont wurden. Privilegierte Ehen und Mischehen wurden hier nicht angetastet und dies wird auch in Holland bleiben, ich fürchte, die evangel. oder kath. Religion allein schützt dort nicht mehr wie bisher. […] Ich nehme von jetzt ab an einem Bibelkreis teil, der in meiner Nähe ist, und bin sehr froh damit aus dem Alltäglichen herausgerissen zu werden. […]

Im Moment höre ich, dass Onkel Heinrich [Pfarrer Grüber] von seiner Frau Besuch hatte [KZ Dachau], es soll ihm leidlich gehen, seine Frau ist sehr elend. Es hat keiner mehr Beziehung zu ihr, sie zog sich ganz zurück. Auch Inge sprach sie wohl nicht mehr [vor der Deportation]. Am 19. werden es zwei Jahre, dass unsere Arbeit [Auswanderungsberatung, Flucht] aufhören musste [wegen Verhaftung Grübers].

P.S. Wer hierbleibt, soll kaserniert werden. Ab. 31.3. [1943] soll Berlin judenrein sein.

Französische Zwangsarbeiterin in Berlin, Siemens-Werke, Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-S68029 / Lizenz CC-BY-SA 3.0

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