„Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, dann können sie die Welt verändern.“ Vielleicht erinnern Sie sich an diesen Spruch? Ich kenne ihn aus den 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals hatte er eine befreiende und ermutigende Kraft. Ob es um Frieden, gerechten Handel, Menschenrechte oder Ökologie ging — wenn sich Menschen aufmachen und Alternativen zur herrschenden Praxis leben, dann kann man sehen: Das geht! Man kann „gerechten Kaffee“ kaufen und trinken. Man kann Konflikte gewaltfrei lösen. Man kann Waren aus Ländern, die die Menschenrechte verletzen, boykottieren. Man kann Mehrweg nutzen, ökologische Produkte kaufen und im Garten kompostieren. Und indem Menschen dies machten, haben sie Druck auf den damaligen Status Quo ausgeübt, im Sinne einer Veränderung. Der Spruch diente als Ermutigung, dass es wichtig war, etwas zu tun, statt sich von der „Alternativlosigkeit“ der Politik hilflos machen zu lassen. Denn schon immer behaupteten die Vertreter:innen der neoliberalen Politik, dass ihr Weg alternativlos sei. Damals war der Spruch gut und wichtig.
Was aber einst eine ermutigende Idee war ist heute zu einer Belastung geworden. Aus der Alternative zu einer „alternativlosen“ Politik ist ein Konzept ebendieser Politik geworden. Heute haben wir als „mündige Konsumenten“ die Wahl, ob wir fair-trade Kaffee kaufen, oder die billige Variante; ob wir einen Mediator für unsere Konflikte buchen, oder nicht; ob wir „Bio“ kaufen oder nicht — usw. Aus der Alternative ist eine Option geworden, die freie Verantwortung liegt bei uns. Ebenso ist es mit der Klimakrise oder in der Pandemie: Wir können unseren „ökologischen Fußabdruck“ berechnen lassen und dann entscheiden, ob wir in den Urlaub fliegen, den öffentlichen Nahverkehr nutzen oder mit dem Rad fahren. Von uns hängt es ab, ob der Klimawandel gestoppt wird. Das zumindest legt man uns nahe — verbunden mit einem gehörigen moralischen Druck. Ob man die Äpfel aus Italien, Spanien oder der Streuobstwiese von nebenan kauft: es liegt an uns, die richtige Entscheidung zu treffen, um „klimaneutral“ zu handeln. Ebenso ist es mit Impfen, Abstandsregelungen und vielem anderen: Es wird uns gesagt, was richtig ist und wir haben die Freiheit, entsprechend zu handeln oder nicht.
Es ist nicht falsch, die Eigenverantwortung von Menschen in Bewusstsein zu rufen und es ist gut, dass fairer Handeln heute mehr Produzenten in der Welt ein besseres Leben ermöglicht. Aber ob es sich um Weltwirtschaft, Klimakrise oder die Pandemie handelt: Globale Probleme löst man nun mal nicht individuell. Der CO2 Ausstoß von Kraftwerken, Industrie und Lieferantenflotten macht nun mal den Großteil der Emissionen aus. Solange Flugbenzin weltweit nicht besteuert wird, ist Fliegen oft die billigere Möglichkeit und wird von der Politik unterstützt und gefördert. Der „freie Weltmarkt“ drückt die Preise für Produzenten und beutet die Länder des Südens heute ebenso aus, wie der Kolonialismus damals. Und Kriege für billiges Öl, seltene Erden usw. werden auch in Zukunft geführt werden — auch, weil die Waffenproduktion hier im Norden „Arbeitsplätze sichert“. Wer daran etwas ändern will, der muss eben auf globale Probleme global handeln, muss Politik machen, statt Konsumentenentscheidungen einzufordern.
Politik ist eben dies: Die öffentlichen und damit überindividuellen Fragen auch als gesellschaftliche Fragen anzugehen und zu bearbeiten. Eine „Verkehrswende“ führt man nicht herbei, indem man das Benzin an der Tankstelle verteuert, sondern indem man den öffentlichen Verkehr ausbaut und Bus und Bahn zu einer echten Alternative macht. Dem Klimawandel tritt man nicht mit dem „ökologischen Fußabdruck“ entgegen, sondern indem man gesetzlich reguliert, wie die Industrie ihre Waren produziert und welche Grenzwerte einzuhalten sind. Es ist nicht mein Problem, ob meine Wohnung isoliert ist, um die Heizkosten zu reduzieren, es ist unser Problem, ob unsere Häuser isoliert sind, um den Energieverbrauch zu senken. Oder um es ganz einfach zu sagen: Der Markt löst nicht alle Probleme, der Markt macht Gewinne. Die Politik löst Probleme, die alle betreffen, d.h. auch wir, aber als BürgerInnen, nicht als Konsumenten.
In dieser Pandemie wird es besonders deutlich: Wer sind die „systemrelevanten Gruppen“ — und warum werden sie schlecht bezahlt und hoch ausgebeutet? Ein Gesundheitswesen erfüllt seine Aufgabe dann, wenn es an den Bedürfnissen orientiert ist, nicht wenn es Gewinne macht und runtergekürzt wird. Und die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit im Weltmaßstab behindert man, indem man klare gesetzliche Regelungen schafft, weltweit solidarisch Impfstoffe produziert und zugänglich macht und für die Dauer der Seuche auch verbindliche Vorgaben umsetzt. Zur Zeit haben wir keine wirksamen Medikamente gegen den Corona-Virus. Wir haben Impfstoffe, die die Ausbreitung verlangsamen und Menschenleben retten können. Ihr Einsatz ist keine Frage einer „verantwortlichen Konsumentenentscheidung“ der Einzelnen, sie ist eine politische Frage der BürgerInnen. Politik aber ist das Abwägen zwischen den Bedürfnissen der Allgemeinheit und der Freiheit der BürgerInnen. Unsere Verfassung sichert die Freiheits- und Menschenrechte der Menschen, weil sie die Antwort auf den faschistischen Satz ist: „Du bist nichts, dein Volk ist alles.“ Aber diese Antwort lautet eben nicht: „Die Gesellschaft ist nichts, du bist alles.“ Die Antwort ist: Was müssen wir als Gesellschaft tun, damit die Einzelnen leben, möglichst gut leben können.
Die Pandemie zwingt den Neoliberalismus zum Offenbarungseid: Mit freien Konsumentenentscheidungen und Gewinnmaximierung lässt sie sich nicht bekämpfen. Der Virus hat keine Aktien. Wer auf die freie verantwortliche Entscheidung der Einzelnen setzt, kann diese nicht indirekt zwingen, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, indem moralischer Druck ausgeübt wird. Wer ein globales, gesellschaftliches Problem lösen will, muss global und gesellschaftlich handeln. Im Moment sind dies Impfungen, diese Masken, die Reduzierung von Kontakten und öffentlichem Leben unsere einzigen Möglichkeiten, Menschenleben zu retten. Auch wenn es einer Impfung alle sechs Monate bedarf, dann ist das zur Zeit unsere Aufgabe. Die Entscheidung, ob dieser Weg gegangen wird, muss politisch getroffen werden. Sie an die Einzelnen abzuschieben, ist keine Lösung.
„Wenn viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, dann können sie die Welt verändern.“ Das ist wahr und das ist gut. Aber wenn wir globale Probleme haben, dann müssen wir sie global lösen. Dann müssen manchmal alle kleinen Menschen gemeinsam große Schritte tun. Und der Weg, sich über diese Schritte zu verständigen heißt Demokratie, heißt Politik, heißt gesellschaftliche Verantwortung. Wer diese Verantwortung für globale Probleme auf die Einzelnen abwälzt, verhindert die Lösung der Probleme. Oder anders: Wenn es um Weltwirtschaft, Erderwärmung und eine globale Pandemie geht, dann liegt es an uns allen, dafür Lösungen zu entwicklen. Es ist unser aller, gemeinsame Aufgabe. Alleine können wir sie nicht lösen, nur gemeinsam, nur als Weltgemeinschaft, als Gesamtgesellschaft. (Trotzdem spricht nichts dagegen, lokale und faire Waren aus der Umgebung unter den Weihnachtsbaum zu legen und solange möglich, den Einzelhandel zu unterstützen, statt den Versandhandel auf die Reise zu schicken.)
Und so lautet mein Spruch für die heutige Zeit: „Du bist nicht schuld!“ Das ist der befreiende und ermutigende Satz, der uns handeln lässt. Ich bin nicht schuld, ich löse die globalen Probleme nicht durch mein individuelles Handeln. Die lösen wir gemeinsam, als BürgerInnen der Weltgesellschaft und in unserem Land.
Heftiger Widerspruch lieber Sören!
Es gilt das lateinische „ et… et“ das sowohl als auch. Doch, wenn ich die billigere aber nicht faire Variante ohne Not wähle, dann bin ich schuld und ich bleibe es auch! Wir sind in der vorletzten Dekade zu Frirden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung aufgerufen worden. Dieser Aufruf gilt auch weiterhin ! Das andere ist es, in Parteien und der Öffentlichkeit für den Klimawandel aufzustehen und dabei eben NICHT mit dem PKW sondern mit dem ÖNPV zu fahren. Es bleiben letztlich immer die vielen kleinen Leute! Viele Grüße Karl
Lieber Karl,
danke für den Widerspruch. Ich bin ja nicht gegen die vielen kleinen Schritte — aber im Moment werden sie benutzt, um von den großen Verursachern und dem Ausmaß der Probleme abzulenken. Denn auch wenn ich es mir (finanziell) leisten kann, die bessere (Bio-) Alternative oder das überteuerte ÖPNV Ticket zu kaufen: Wie viele können es sich nicht leisten. Deshalb muss die Politik das regeln, dass das Richtigere auch möglich wird. Die kleinen Schritte sind notwendig, aber sie werden heute zu einer Luxus-Konsumenten-Entscheidung umgewendet.
Im Ganzen (wie schon am Schluss des Textes erwähnt): Wir sollen bitte das Richtigere tun, wo es uns möglich ist — die kleinen Schritte — und trotzdem die globalen Probleme als (Welt-)BürgerInnen angehen und politisch handeln. Das scheinst Du auch zu tun, danke. Ich richte mich gegen die Reduktion auf die „kleinen Schritte“, die die Menschen in die moralische Pflicht nehmen und „die Idustrie“, die „Wirtschaft“ fein raus lassen…
In solidarischer Verbundenheit
grace&power Sören