Es gibt Worte Jesu, bei denen könnte man meinen, sie seien direkt an uns gerichtet. An uns, die wir auf das vergangene Jahr zurückschauen und gute Vorsätze für das begonnene machen. Ich wette, jeder und jedem von uns fallen Dinge ein, die 2021 nicht gut gelaufen sind und die wir 2022 besser machen wollen: das eine oder andere Schokoladentörtchen liegen lassen, mehr Bewegung, weniger Reizbarkeit, dem unsympathischen Nachbarn ein freundliches Wort schenken, weil er ja auch und trotz allem, was einem auf die Nerven geht, ein Mitmensch ist… Gute Vorsätze sind extrem angesagt zum Beginn eines Jahres. Wenn… ja wenn da nicht immer schon die Ahnung mitschwingen würde, dass uns der innere Schweinehund am Ende doch wieder einen Strich durch die Rechnung machen wird. Auch das kennen wir ja schon, das zu Ende gegangene Jahr hat es gezeigt: Unter all´ die guten Samen, die wir säen, mischt sich – oft ohne dass wir es wollen – immer wieder Unkraut.
Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte, sagt Jesus. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Ja, wenn wir ehrlich sind, wohnt er in uns allen: das kleine Teufelchen, dieser innere Widersacher, der viele unserer guten Vorsätze schmälert und manchmal gar zunichtemacht. Und wir? Was tun wir? – Wer nicht sehr weise ist – und wer ist das schon –, macht alle Jahre wieder neue gute Vorsätze; noch bessere Vorsätze! Gar keine Schokolade mehr, trainieren für den Marathon, Freundlichkeit gegenüber jedermann, bis das Lächeln im Gesicht gefriert. Bis… ja bis man merkt, dass man sich selbst verliert in all´ der Selbstoptimierung. Denn wir sind ja keine Heiligen. Die trüben Seiten gehören zu uns wie die guten, ohne Fehler wären wir unmenschlich, und es wird immer etwas geben, das wir an uns selbst nicht mögen.
Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast Du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst Du also, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein, auf dass Ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Gebt acht, sagt Jesus, dass Ihr nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Wer makellos leben will, läuft Gefahr, mit dem Unkraut auch die schönen Blüten seines Menschseins auszumerzen. Gewiss, wir sollen Schlechtes meiden, wo wir es erkennen. Aber das Himmelreich zu schaffen, liegt nicht in unserer Hand. Und wer wir sind und wie wir selbst und andere uns annehmen können, hängt nicht von unserer Fehlerunfreundlichkeit und schon gar nicht von der Qualität unserer guten Vorsätze ab. In unseren schwachen Seiten sollen wir ebenso „Ich“ sein wie in unseren Vorzügen.
„Sündige tapfer“, hat Martin Luther ausgerufen. Er wusste: In Jesus Christus ist es der Ewige allein, der heilt, was in unserem Leben zerbricht, der uns von Schmerz und Schaden befreit und der die verlorenen Fäden unserer Hingabe zusammenfügt. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte, sagt Jesus: das Gelingende und das Scheitern. Und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.
Das ist keine Drohung, sondern ein Versprechen. Und weil´s ein Versprechen ist, ist es das Himmelreich. Und wenn wir Jesus glauben, ist´s das Himmelreich auf Erden: ein Leben ohne den Leistungsdruck der Selbstoptimierung; ein Leben mit Schokoladentörtchen und Bewegung; ein Leben, das Streit nicht aus dem Weg geht, wo er sein muss, und mit einem Lächeln für den mürrischen Nachbarn am Neujahrsmorgen; ein Leben, in dem unsere innere Zerrissenheit und alle Unzufriedenheit mit uns selbst heil werden – schon jetzt.
Die äußere Zerrissenheit, die unserer inneren entspricht, übrigens auch! Wir erleben in diesen Tagen ja eine tiefe Spaltung unserer Gesellschaft. Als sei alles, was die Pandemie mit sich bringt, nicht schon bedrückend genug, stehen sich Befürworter und Gegner der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung immer unversöhnlicher gegenüber. Obwohl ich persönlich nicht verhehlen kann, dass ich überhaupt nicht verstehe, wie man grundsätzlich, das heißt ohne konkreten Anlass, gegen das Impfen und anderes Schützende sein kann, möchte mir nicht anmaßen zu richten, wer hier „Weizen“ und wer „Unkraut“ ist. Gut und böse sind wir alle! Und ja: Über jede einzelne dieser Maßnahmen kann und soll intensiv debattiert werden. Aber die Übernahme von Verantwortung „Verschwörung“ zu nennen, ist absurd. Übernahme von Verantwortung macht immer angreifbar. Doch wenn einige die Menschen, die dies tun, radikal und undemokratisch angreifen, ist das brandgefährlich. Und wenn sie sich dabei auch noch auf verquere Weise auf den Widerstand gegen den Nazi-Terror berufen, ist es darüber hinaus zum Verzweifeln zynisch. Darum müssen wir uns mit allen Kräften gegen geistige und handgreifliche Brandstifter wehren – nicht um sie wie Unkraut aus der Gesellschaft zu entfernen, sondern um die Freiheit und Offenheit unserer Demokratie zu wahren.
Hier gilt es, die Geister genau zu scheiden: Die verqueren „Denker“ sind Menschen, die mit Worten und mit Taten meinen, „Unkraut“ ausreißen zu müssen. Weil sie meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben. Weil sie nicht oder nicht mehr sehen können, dass der Riss zwischen gut und böse durch unser aller Menschsein verläuft. Und weil sie nicht glauben können, dass nicht wir Menschen „Unkraut“ zu definieren und auszureißen haben, sondern dass es der Ewige in Jesus Christus allein ist, der das Lebensfeindliche von uns allen nehmen wird.
Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte, sagt Jesus: das Gute, Erfüllende und das Fehlerhafte, Schädliche. Um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.Ja, es gibt Worte, bei denen könnte man meinen, er habe sie direkt an uns gerichtet. Und wenn es dann am Beginn des neuen Jahres doch einen guten Vorsatz für uns geben sollte, dann vielleicht diesen: Lassen wir uns nicht spalten! Nicht als Gesellschaft, nicht als Kirche, nicht als Menschen, die manchmal gut sind, manchmal böse, aber denen für immer versprochen ist, dass der Ewige lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Matthäus 5,45).
Seien Sie behütet!
Martin Fricke.
Die Worte Jesu finden sich in seinem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Matthäus 13,24-30). Das Zitat am Schluss stammt aus der Bergpredigt (Matthäus 5,45).