Wie ist die Bundeswehr nach Afghanistan gekommen?

Vorsicht, keine Predigt

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Vor längerer Zeit diskutierte ganz Deutschland einen Satz aus der Neujahrspredigt der damaligen Ratsvorsitzenden Margot Käßmann: „Nichts ist gut in Afghanistan“. Liest man die Predigt ganz, fällt auf, dass dieser Satz (fast) keine Rolle spielte. Es ging um die Jahreslosung 2010: „Euer Herz erschrecke nicht – glaubt an Gott und glaubt an mich“. Käßmann erinnerte sich an eine ironisch-optimistische Weihnachtskarte, in der das neue Jahr angekündigt wurde mit: „Alles wird gut“, und stellte diesem Jahresausblick dasjenige gegenüber, das möglicherweise einige Gemeindeglieder tatsächlich erschrecken könnte: das Scheitern einer Ehe, Schuld, Krankheit, Tod, Klimawandel, Afghanistan, Kinderarmut, der Suizid des Fußballspielers Robert Enke usw. Mal sagte sie „nicht alles ist gut“, mal „nichts ist gut“, letzteres auch zu Afghanistan und stellte dem Erschrecken des Herzens über das Schlechte in der Welt den christlichen Glauben gegenüber.

Wenn ich jetzt nachlese, mit welch scharfen Worten Politik und Journalisten über diesen einen Satz herfielen, erschrickt mein Herz. Wer von denen, die sich aufregten, interessierte sich für Afghanistan? Wer für die Jahreslosung? Wer für die Predigt? Konkret hatte Käßmann nicht viel mehr gesagt als dass Waffen in Afghanistan keinen Frieden schafften und man mehr Phantasie brauche. Sie hatte die Bundeswehr nicht kritisiert.  

Heute taucht Afghanistan in der Tageschau nur noch selten auf. Dafür hat es sich sonntags danach, 20:15 Uhr im „Tatort“, einen festen Platz erobert: traumatisierte Soldaten, Polizeiausbilder, Geheimdienste, Drogenhandel, Asylbewerber, Frauenschmuggel. Dahinter steckt zum Teil Realität, zum Teil Phantasie, wenn auch andere als von Käßmann gefordert. Deshalb noch einmal in die reine Realität: Warum führt die Bundeswehr in Afghanistan Krieg, falls man diesen unschönen Begriff benutzen will, den Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg am 4.4.2010 erstmalig verwandte, Krieg im umgangssprachlichen, wenn auch nicht im völkerrechtlichen Sinn, wie er ausdrücklich dazusagte? Seine Vorgänger hatten noch von einer „Operation“ mit „robustem Mandat“ gesprochen, von einer „friedenschaffenden“ (nicht nur friedenserhaltenden) „Maßnahme“ oder von einem „out-of-area-Einsatz“. Wie sind die deutschen Soldaten, wenn man sie Soldaten nennen will (und nicht Spezialkräfte), in diese Operation – Maßnahme – Einsatz hineingeraten? Ich habe die alten Debatten im Bundestag von 2001 noch einmal nachgelesen.  

Anlass waren die Anschläge vom 11. September 2001, ein so furchtbarer terroristischer Massenmord, dass man auch tags darauf noch nicht wusste, wie viele Toten es gegeben hatte (heute geht man von knapp 3000 aus). Am 12.9. sah der UN-Sicherheitsrat (Resolution 1368) in den Anschlägen „wie in allen internationalen terroristischen Handlungen“ eine Bedrohung des Weltfriedens und rief die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um terroristische Handlungen zu verhüten und bekämpfen. Er bekundete die Bereitschaft, dafür „alle erforderlichen Schritte“ zu unternehmen. Der Krieg war dabei weder ausdrücklich genannt, noch ausdrücklich ausgeschlossen, möglicherweise auch noch nicht im Blick. Am selben Tag beschloss der Nato-Rat, dass die Anschläge, „falls festgestellt wird, dass sie vom Ausland aus gegen die Vereinigten Staaten verübt wurden“, als kriegerische Handlung im Sinne des Artikels 5 des Washingtoner Vertrags angesehen würden. Dort stand, dass ein bewaffneter Angriff „gegen einen“ Bündnispartner als Angriff „gegen alle“ angesehen werde. Damit hatte der NATO-Rat das erste Mal nach Ende des Zweiten Weltkrieges einen (noch mit Kautelen versehenen) Bündnisfall festgestellt: Sofern „Land X“ beteiligt war, hatte es einen Krieg gegen die USA angefangen.

Am 19. September forderte der UN-Sicherheitsrat die afghanische (Taliban-) Regierung auf, den inzwischen als Haupttäter der Anschläge erkannten saudischen Staatsbürger Osama bin Laden, „sofort und bedingungslos“ auszuliefern. Die afghanische Regierung weigerte sich. Am 7. Oktober begann die NATO die „Operation Enduring Freedom“, die das Ziel hatte, Terrorismus zu bekämpfen. Die Bundesregierung stellte (Drucksache 14/7296) beim Bundestag unter Berufung auf die UNO-Resolution 1368 den Antrag, sich daran in Afghanistan und anderen aufgezählten Regionen (z.B. am Horn von Afrika) mit „bewaffneten Streitkräften“ zu beteiligen. Anvisiert war ein Zeitraum von „zunächst“ einem Jahr.  Es ging darum, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen „auszuschalten“, sie zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und „vor Gericht“ zu stellen. Dabei sei Art. 2 des Grundgesetzes zu bewahren: „Die Anwendung militärischer Gewalt richtet sich nach den für den jeweiligen Einsatzraum geltenden Einsatzregeln auf der Grundlage des Völkerrechts“. Der Antrag lässt offen, woher das unabhängige Gericht kommen sollte, die spätere Debatte zeigt allerdings, dass viele Bundestagsabgeordnete an den Internationalen Strafgerichtshof dachten, dessen Statuten 1998 festgelegt worden waren und der seine Arbeit im Juli 2002 aufnehmen sollte.  

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Ab dem 7. Oktober 2001 nahmen vor allem die USA und Großbritannien massive Luftangriffe auf Afghanistan vor. Schon nach wenigen Tagen wurde die Taliban-Regierung gestürzt. Am 13. November wurde Kabul kampflos eingenommen.

Als der Bundestag am 16. November über den jetzt neun Tage alten Antrag der Bundesregierung debattierte, schienen wesentliche Probleme gelöst zu sein. Bei der Einbringung freute Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sich, dass die Taliban-Regierung gestürzt war, die Terroristen des Netzwerkes bin Landes in Afghanistan weitgehend isoliert und in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Nun könne die „dauerhafte Stabilisierung“ einer Übergangsregierung beginnen. Schröder verband seinen Antrag mit der Vertrauensfrage.

Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) hieß für seine Fraktion den Antrag der Bundesregierung inhaltlich für richtig, wollte allerdings nicht dem Bundeskanzler das Vertrauen aussprechen, weil Schröder die Vertrauensfrage lediglich als „Disziplinierungsmittel“ benutze: „Herr Bundeskanzler, Sie stürzen in diese Krise, weil Sie den Mund zu voll genommen haben, weil Sie die Lage in Ihrer eigenen Fraktion und Ihrer eigenen Partei falsch eingeschätzt haben, weil jetzt sämtliche antiamerikanischen Reflexe in Ihrer Partei und bei den Grünen wieder hochkommen.“

Bundesverteidigungsminister Struck (SPD) verteidigte die geplante Entsendung von „100 Spezialkräften, die mit polizeiähnlichen Zugriffsmöglichkeiten besonders geeignet sind, identifizierte Terroristen oder Talibanverbrecher in Afghanistan dingfest zu machen“. Das sei kein Kriegseinsatz, vielmehr gehe es darum, Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, ähnlich wie man die bosnischen Kriegsverbrecher jetzt in Den Haag vor Gericht stelle. Kerstin Müller (Grüne) stützte das, weil die Spezialkräfte „quasi polizeilich-militärische Aufgaben“ hätten. Demgegenüber fand Roland Claus (PDS), Soldaten hätten bei der Terrorbekämpfung nichts zu suchen: „Der Krieg ist und bleibt ein untaugliches Mittel im Kampf gegen den Terror.“ Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) erinnerte vor allem an den geplanten Internationalen Strafgerichtshof und wollte durch die Verhaftung der Terroristen Rückkehrmöglichkeiten für (damals schon) etwa 9 Millionen afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland schaffen. Michael Glos (CSU) erinnerte daran, dass die Taliban „nicht von der Friedensbewegung“ und auch nicht durch „rot-grüne Sprüche“ aus Afghanistan vertrieben worden seien, sondern durch die USA unterstützt durch „unsere französischen und britischen Freunde“.

Sowohl in der Debatte als auch in den zahlreichen schriftlich zu Protokoll gegebenen persönlichen Stellungnahmen zeigte sich, dass die Verknüpfung des Antrages mit der Vertrauensfrage vielen Abgeordneten nicht Recht war. Die Oppositionsfraktionen der CDU/CSU und FDP begrüßten meist den Antrag, stimmten aber gegen das Gesamtpaket, weil sie Schröder nicht stützen wollten. Eine kleinere Minderheit der SPD-Abgeordneten und zahlreiche Grüne hatten Bedenken gegenüber dem Antrag, stimmten aber für das Gesampaket, weil sie Schröder nicht stürzen wollten.

Inzwischen waren die Terroristen verstreut oder untergetaucht.  Bin Laden und seine Al-Quaida-Kämpfer schienen sich in den Höhlen von Tora-Bora verschanzt zu haben, die im Dezember derart massiv bombardiert wurden, dass sich keine Leichenteile mehr auffinden ließen und er für vermutlich tot erklärt wurde. Tatsächlich hatte er sich (ebenso wie etwa 200 seiner Getreuen) nach Pakistan abgesetzt.

Am 21.12 beantragte die Bundesregierung, die Bundeswehr möge sich an einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe („International Security Assistance Force“, kurz ISAF) im Rahmen der Vereinten Nationen beteiligen. Es ging darum, zunächst für einen Zeitraum von sechs Monaten „die vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung so zu unterstützen, dass sowohl die vorläufige afghanische Regierung als auch das Personal der Vereinten Nationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können.“ Die vorläufige Regierung sollte am 22.12. ihre Tätigkeit aufnehmen bzw. hatte es schon, als man tags darauf im Bundestag diskutierte.

Bundeskanzler Gerhard Schröder kritisierte zu Beginn die Gegner des Einmarsches: „Es gehört für viele zu den bitteren Wahrheiten in dieser Zeit, dass der Frieden in Afghanistan nur durch Krieg näher gerückt ist.“ Es gelte jetzt, die UNO zu stärken. Man benötige ein „robustes Mandat“, das schlimmstenfalls Gewaltanwendung legitimiere. Man könne darüber streiten, ob die sechs Monate eine zureichende Begrenzung seien, aber so habe es der Sicherheitsratsbeschluss erst einmal festgelegt. Auch wenn das vielleicht nicht ausreiche sei deutlich: „Es handelt sich um ein von den Aufgaben her, vom Einsatzort her und von der Zeit her begrenztes Mandat.“ Oppositionsführer Friedrich März (CDU) stimmte ihm weitgehend zu, betonte allerdings, dass die Bundesregierung nicht wesentlich mehr geleistet habe, als Wolldecken zu liefern, „und es aus der Rückschau einigermaßen grotesk anmutet, dass darüber fast das rot-grüne Bündnis zerbrochen wäre.“ Er kündigte eine Zustimmung seiner Fraktion zum Beschluss an, der diesmal nicht mit der Vertrauensfrage verbunden war. Außenminister Joschka Fischer (Grüne) betonte die einmalige Chance, Afghanistan zu einem dauerhaften Frieden zu verhelfen. Roland Claus (PDS) erklärte, dass seine Fraktion es sich mit der Entscheidung nicht leicht gemacht habe, aber gegen den Beschluss stimme, weil militärische Optionen und Wiederaufbau zu stark verquickt seien. Man bekämpfe eine Arbeitsteilung, bei der die NATO Bomben werfe und die UNO hinterher die Scherben aufzulesen habe.  Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) sprach der PDS, die zu DDR-Zeiten den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ von Anovraks habe entfernen lassen, das Recht ab, sich als Friedensaktivist zu präsentieren. Rezo Schlauch (Grüne) lobte die Bundesregierung dafür, dass sie das ISAF-Mandat durch den UNO-Sicherheitsrat und nicht nur durch die NATO habe legitimieren lassen. Nur so könne ein sicheres und stabiles Umfeld für die Arbeit der afghanischen Übergangsregierung gewährleistet werden. Bei der namentlichen Abstimmung, Ausnahmen bestätigen die Regel, stimmten die Abgeordneten von SPD, Bündnisgrünen, CDU/CSU und FDP für den Antrag, nur die der PDS dagegen.

Damit war die Bundeswehr auf zweifache Weise in Afghanistan engagiert: Die KSK-Kräfte verteidigten im Rahmen der NATO-Operation „Enduring Freedom“ die territoriale Integrität der USA, indem sie Terroristen in Afghanistan jagten, andere Bundeswehrsoldaten stabilisierten im Rahmen der UN-Mission ISAF unter Führung der Vereinten Nationen die Übergangsregierung. Beide Einsätze beriefen sich auf die UN-Resolution 1368 vom Tag nach dem Attentat, die „alle erforderlichen Schritte“ legitimiert hatte.

Am 7. Februar 2002 entschied der amerikanische Präsident George W. Bush, dass al-Quaida-Terroristen und Taliban als „ungesetzliche Kämpfer“ zu gelten hätten und damit weder die Rechte von Kriegsgefangenen genössen noch die von Beschuldigten nach afghanischem, amerikanischem oder internationalem Recht. Diese Ankündigung widersprach dem Völkerrecht, auch wenn es natürlich Völkerrechtler gab, die seine Position stützten. Die KSK-Kräfte hatten aber laut Bundestagsbeschluss die Aufgabe, Terrorismusbekämpfung im Einklang mit dem Völkerrecht zu betreiben. Das passte nicht zusammen. Spätestens am 5. April entschloss Bush sich (noch geheim und ohne Zustimmung des Kabinetts) zum Irak-Krieg. Am 1. Juni machte er diese Absicht öffentlich. Schröder und Chirac entschieden sich wohl im Juli gegen eine Teilnahme, ab September zeichnete sich ab, dass Blair das in London anders sah, zum offenen Zerwürfnis kam es im Frühjahr 2003, wobei Merkel, inzwischen Oppositionsführerin, für den Irakkrieg optierte.  

Für mich war nicht eindeutig ermittelbar, wie viele mutmaßliche Terroristen die KSK-Einheiten gefangen haben und was sie mit ihnen anstellten. Halb-offizielle Auskünfte besagen, sie hätten nur einmal jemanden verhaftet; der sei wieder entlaufen. Die USA transferierten ihre Gefangenen oft ins Militärgefängnis Bagram (Afghanistan), von wo aus sie manchmal nach Guantanamo, manchmal auch anderswohin transferiert wurden. Manche sind auch unauffindbar verschwunden. Dass in Bagram Misshandlungen und Folter vorkamen, wurde öffentlich durch einen Bericht der New York Times im Dezember 2005. Der türkische Staatsbürger Bremer Herkunft Murat Kurnaz behauptete später, er sei Ende 2001 von zwei KSK-Kräften im US-Air Force Base von Kandahar (ebenfalls Afghanistan) misshandelt worden. Nach Strafanzeige wurde in Ulm ein Strafprozess geführt, seine Aussage stand gegen die zweier angeklagter KSK-Soldaten. Der Prozess endete mit einem Freispruch. Ein Bundestagsuntersuchungsausschuss kam zu dem Ergebnis, dass die Aussage von Kurnaz glaubwürdig sei, aber ein letzter Beweis fehle. 2008 wurde das Mandat für „Operation Enduring Freedom“ für Afghanistan gestrichen. Seither können KSK-Kräfte allenfalls unter ISAF-Mandat eingesetzt werden. 2013 starb ein KSK-Soldat bei einem Einsatz in Afghanistan. Näheres ist nicht bekannt. 2020 kamen die KSK-Einheiten wegen rechtsradikaler Tendenzen ins Gerede.

Grundsätzlich unterliegen Operationen der KSK-Einheiten sowohl der Parlamentarischen Kontrolle als auch der Geheimhaltung. Welchem dieser beiden einander widerstreitenden Prinzipien im Einzelfall der Vorrang gegeben wird, ist nicht immer ganz durchsichtig. Das ist ähnlich wie bei Geheimdiensten: Im Konfliktfall entscheiden Gerichte. Die wissen auch nicht immer, was sie nicht wissen dürfen, können aber nach komplizierten Regeln Akteneinsicht beantragen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandeln, und entscheiden dann oft nach formalen Kriterien.

Es bleiben zwei Möglichkeiten: Entweder haben die KSK-Kräfte im Rahmen von „Enduring Freedom“ keine Terroristen festnehmen können oder sie haben nicht nach den Regeln des Völkerrechtes vor Gericht gestellt. In beiden Fällen haben sie die vom Bundestag formulierten Ziele nicht erreicht. Ein Regime-Change, der Sturz der Taliban, war von deutscher Seite nie angestrebt, wurde aber  von Seiten der USA, Frankreich und Großbritannien angestrebt und auch erreicht. Der zunächst vom Bundestag für den Zeitraum eines halben Jahres erstrebten Stabilisierung der Übergangsregierung schien man zeitweise nahe zu sein. Heute, neunzehn Jahre später, existiert eine nur teilweise demokratische Regierung, die auch nur sehr teilweise stabil ist.  Das Ziel des ISAF-Einsatzes wurde damit bisher nicht erreicht.

Mir will scheinen: Die Bundesrepublik Deutschland ist voll guter Absichten in den Afghanistan-Krieg hineingeschliddert. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ verband zu einer Formel, was hätte getrennt bleiben müssen. Für Terrorismusbekämpfung ist die Polizei zuständig (allenfalls noch die Geheimdienste). Kriege führt das Militär. Terroristen und Kriegsverbrecher werden nach rechtsstaatlichen Kriterien durch ein unabhängiges Gericht abgeurteilt. Kriegsgefangene werden nach der Genfer Konvention behandelt und spätestens nach Beendigung des Krieges wieder freigelassen.

Die Fehler sind früh gemacht worden, im UNO-Sicherheitsrat am 12. September durch die nicht ganz eindeutige Legitimierung „aller erforderlicher Schritte“ der Terrorismusbekämpfung, im Nato-Rat durch die Feststellung, dass mit den terroristischen Angriffen vom 11. September 2001 der Bündnisfall gegeben war. Man stellte damit fest, dass man sich im Krieg befand, auch wenn man noch kein Land als Kriegsgegner benennen konnte. Diesen Blankoscheck musste die Bundesregierung einlösen, wollte sie nicht an Glaubwürdigkeit verlieren, und boxte deshalb die deutsche Beteiligung am „Krieg gegen den Terror“ gegen erhebliche Widerstände durch den Bundestag. Vielleicht hätte der Rückzug der USA aus dem Projekt des Internationalen Militärgerichtshofes im Februar 2002 die Möglichkeit eines Rückzuges aus der gemeinsamen Terrorismusbekämpfung geboten, für die jetzt das Völkerrecht als gemeinsame Basis fehlte. Möglicherweise hat die Bundesregierung das im Februar 2002 noch nicht gleich übersehen, danach glaubte sie wahrscheinlich, den schweren transatlantischen und innereuropäischen Zerwürfnissen wegen des Irakkrieges nicht noch einen weiteren Konfliktherd hinzufügen zu müssen. Heute tut sich die deutsche Politik schwer damit zuzugeben, dass der Einmarsch in Afghanistan ein Fehler war, zumal damals fast alle Bundestagsabgeordneten dafür stimmten und die meisten Medien den Krieg bejahten.

Heute ist zwar nicht „nichts“, aber doch vieles schlecht in Afghanistan. Ich ziehe daraus nicht die Schlussfolgerung, dass die Bundeswehr morgen abziehen sollte. (Das hat Kässmann am Neujahrstag 2010 übrigens auch nicht getan.) Vielmehr wünschte ich mir, dass ein etwaiger Abzug bundesdeutscher Soldaten nicht nur durch die deutsche Innenpolitik, sondern in Verantwortung gegenüber der Zukunft Afghanistans geschehen würde, also wenn die Afghaninnen und Afghanen davon profitierten. Ich finde aber schon, dass man darüber nachdenken sollte, wie man aus dem Desaster herauskommen kann. Einen Krieg zu beenden war schon immer schwieriger, als ihn zu beginnen. Einmarsch ist leicht, Abzug kompliziert; das hat auch Obamas Abzug aus Syrien wieder gezeigt.

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„Beati pacifici quoniam Filii Dei vocabuntur“ (Mt. 5,9) heißt es in der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung, deutsch „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Aus der lateinischen Fassung wurde in der Umgangssprache der „Pazifist“ als Schimpfwort für diejenigen, die angeblich die eigene Gewaltlosigkeit als oberstes Prinzip ohne Rücksicht auf etwaige desaströse Folgen ausgeben. Doch könnte meiner Überzeugung nach eine Frieden schaffende militärische Operation, ein maßvoller und verhältnismäßiger Gewalteinsatz als letztes Mittel, durchaus vor einer „pazifistischen“ Verantwortungsethik gerechtfertigt werden, sofern sie den Frieden auch tatsächlich schafft. Wenn sie ihren eigenen Erfolg allerdings nur behauptet und sich das Desaster schönredet, scheint mir das weniger „selig“ zu sein und ein Grund, die bisher eingeschlagenen Strategien zu überdenken. Mich erinnert das eher an den Schluss der Bergpredigt, als derjenige, der diese Worte hört und nicht tat, verglichen wird mit einem Mann, der sein Haus auf Sand baute: „Als ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es ein und wurde völlig zerstört.“ (Mt. 7,27).

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