Wie lange willst du uns so ganz vergessen?

Dr Dietrich Knapp
von Dr. Dietrich Knapp

Wir sind mitten in der vierten Welle der Pandemie. Die Zahl der Infizierten ist immer weiter gestiegen. Die Intensivstationen sind in Kürze voll. Bald werden nicht mehr alle, die mit COVID-19 eingeliefert werden, aufgenommen werden können. Bald werden die dort tätigen Ärztinnen und Ärzte entscheiden müssen, wer behandelt und gerettet wird und wer keine intensivmedizinische Behandlung und kein Intensivbett bekommt. Medizinerinnen und Mediziner werden über Leben und Tod entscheiden müssen. Das fürchterliche Wort „Triage“ macht wieder die Runde. Derweil ist in der Politik – trotz der massiven, ja verzweifelten Warnungen aus den Krankenhäusern und aus der Wissenschaft – munter diskutiert worden, als hätte man alle Zeit der Welt.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Eigentlich ist es zum Verzweifeln. Zum einen stecken wir in einer weltweiten Katastrophe, die unendlich schwer einzudämmen und zu bewältigen ist, in einer Katastrophe, die entschiedenes und schnelles Handeln erfordert. Zum anderen scheinen manche derer, die Verantwortung tragen, nicht zu verstehen, was die Stunde geschlagen hat. Obwohl Fachleute aus Virologie und Epidemiologie seit Monaten tagein, tagaus gründlich informiert und eindringlich gewarnt haben. Die Gemütslage vieler Menschen schwankt zwischen müde und wütend. Man weiß kaum noch wohin mit den verschiedenen starken Emotionen.
Manchmal denken wir, wir wären die ersten, die eine derart große Katastrophe zu meistern hätten. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich immer wieder Menschen in vergleichbaren Situationen befunden haben. Immer wieder hat es Epidemien und Pandemien gegeben. Eine, die Spanische Grippe, ist gerade einmal hundert Jahre her. Und auch in biblischen Zeiten gab es derartige fürchterliche Krankheiten:

So tauchen zwei Worte, die so viel heißen wie „Epidemie“ (hebr.: daeber und qaetaeb) über 50 Mal im Alten Testament auf. Oftmals kamen dann auch noch Hunger und Krieg dazu – zusammen eine wahre Trias des Todes. Auch damals wussten sicher viele nicht, wohin mit ihren starken Emotionen und ihrer großen Verzweiflung. Dazu brach dann auch noch die große Frage auf: Warum sieht Gott das Elend nicht? Warum greift er nicht ein? Warum lässt er die, die ihm vertrauen, einfach hängen?

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Im alten Israel hat man in solchen Situationen Gott sein Elend geklagt. Und dabei hat man kein Blatt vor den Mund genommen. Man hat Tacheles mit Gott geredet. Die ganze Verzweiflung hat man herausgeschrien und vor Gott gebracht, ja ihm regelrecht Vorwürfe gemacht. Man hat versucht, ihn aufzurütteln. Im Psalter findet sich eine Gattung, die der Klagepsalmen, die solche Erfahrungen der Not und Verzweiflung benennt und mit Vehemenz vor Gott bringt. Weil das Leben oft durch Dunkelheiten und Katastrophen geprägt war, sind sehr viele der 150 Psalmen solche Klagepsalmen. So auch der Psalm 13:

2 HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen?
Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?

3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele
und mich ängsten in meinem Herzen täglich?
Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?
4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott!
Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe,
5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden,
und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke.
6 Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist;
mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst.
Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.

Gott wird angegangen, fast vorwurfsvoll. Er soll antworten, warum er die Beterin oder den Beter vergessen und im Stich gelassen hat. Warum er ihn oder sie der ständigen Angst überlässt. Warum er die Situation nicht wendet. Warum all das kein Ende hat. Der Feind erhebt sich triumphierend. Das ist sicher nicht wörtlich, sondern metaphorisch gemeint. So steht der Feind in den Psalmen für alles, was das Leben des Beters bzw. der Beterin gefährdet, bedroht und zerstört. Die Gefahr ist real, dass es keinen Ausweg und keine Rettung gibt und dass alles auf den Tod zuläuft.

Irgendwie passt der Psalm in unsere heutige Situation: Die Sorge um die Gesundheit derjenigen, die einem nahe stehen, wie auch um die eigene. Die Angst, schwer an dem Virus zu erkranken und oder sogar daran zugrunde zu gehen. Das Virus ist gewissermaßen der Feind, der die Oberhand bekommen möchte. Und dann bricht da auch die religiöse Frage auf: Reden wir in Kirche und Theologie nicht immer davon, dass Gott das Leben der Menschen will und fördert? Anscheinend ist davon im Moment wenig zu sehen. Man möchte Gott auch heute fragen: Wie lange willst du uns vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor uns? Wann ist endlich, endlich Schluss mit dem ganzen Elend?

Die Menschen des alten Israel haben diese quälenden Fragen nicht für sich behalten, sondern vor Gott ausgesprochen und ausgebreitet – auch wenn sie keine Antwort bekommen haben. Sie haben versucht, Gott in die Verantwortung zu nehmen und ihn an seine Versprechen und Verheißungen zu erinnern. Sie haben versucht, ihn zum rettenden Handeln zu drängen.

Aber da ist noch etwas ganz anderes, was ins Auge fällt: der versöhnliche Schluss, über den man sich bei einem solchen Psalm eigentlich wundert:

Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist;
mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst.
Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.

Wie kommt es in einem so düsteren Psalm zu einem so positiven Schluss, voller Hoffnung und Gottvertrauen? Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler haben sich mit diesen positiven Wendungen in den Klagepsalmen oftmals schwergetan. So etwas passe doch nicht in einen Klagepsalm. Manche waren sogar der Meinung, das könne nur eine spätere Ergänzung oder sekundäre Fortschreibung sein. Das ist aber nicht der Fall. Fast alle Klagepsalmen haben einen derartigen positiven Schluss. Hier gehen die Gedanken der Beterin oder des Beters schon in die Zukunft, in die Zeit nach der Katastrophe, in die Zeit nach dem großen Elend. Sie sind der Zeit gewissermaßen voraus. Gott wird in der Zukunft helfen. Das ist für sie trotz der gegenwärtigen Erfahrungen ganz sicher. Es ist sein Wesen zu helfen und die Menschen nicht im Stich zu lassen. Seine Zuneigung zu den Menschen wird sich zeigen. Gott kann letztlich nicht anders. Und dafür kann man Gott danken – schon heute.

Meine Gedanken gehen auch manches Mal in die Zeit, wenn die Pandemie abgeklungen ist. Was wird dann alles wieder möglich sein! Wie werden wir uns freuen! Wie werden wir das Leben genießen – im Kleinen wie im Großen! Das Leben wird ein Fest sein! Das ist Grund zur Dankbarkeit, schon jetzt – selbst wenn einem das zurzeit wirklich absurd vorkommt.

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