Das alte Israel hat keine Zeittheorie entwickelt. In der Hebräischen Bibel gibt es keine Texte, die sich dem Thema „Zeit“ auf eine grundsätzliche oder philosophische Weise nähern. Dennoch gibt es eine große Anzahl von Texten, die von einem ganz bestimmten und charakteristischen Zeitverständnis geprägt sind, ohne dass das explizit thematisiert würde.
Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Arten des Zeitverständnisses, das zyklische und das lineare. Für das zyklische Zeitverständnis ist Zeit die Wiederkehr des ewig Gleichen; die Zeit ließe sich als Kreis darstellen. Das lineare Zeitverständnis betont dagegen das ständige Fortschreiten. Nichts kehrt wieder. Vielmehr ist jeder Moment, jedes Ereignis, jeder Zeitpunkt einmalig und unwiederholbar. Nach diesem Verständnis ließe sich die Zeit als Pfeil darstellen. Im alten Israel hat es einerseits das zyklische Zeitverständnis gegeben. So wurden etwa die großen Feste wie das Passa- oder das Laubhüttenfest regelmäßig begangen. Auch der Sabbat kehrt alle sieben Tage wieder. Ein derartiges zyklisches Zeitverständnis ist für alte Kulturen nichts Ungewöhnliches, wie ein Blick in die benachbarten altorientalischen Kulturen lehrt. Man denke etwa an die Neujahrsfeier in Babylon. In Israel gab es andererseits aber auch das lineare Zeitverständnis, das das Denken und die religiöse Literatur außerordentlich stark geprägt hat. Das kann am besten an einem Beispiel verdeutlicht werden.
Es gibt in der Hebräischen Bibel ein großes Geschichtswerk, das im 6. Jahrhundert innerhalb eines theologischen Schulbetriebes entstanden ist. Dieses Werk beginnt mit dem 5. Buch Mose, dem Deuteronomium, es wird fortgesetzt in den Büchern Josua, Richter, 1. und 2. Samuel und findet seinen Abschluss mit dem 1. und 2. Buch der Könige. Inhaltlich wird ein weiter erzählerischer Bogen gespannt: von der Zeit, als Israel unter der Führung des Mose ins Land von Osten her einzog, über die Zeit der Landnahme, die vorstaatliche Zeit bis hin zur Königszeit, die mit Saul, David und Salomo begann und mit Jojachin und Zedekia endete. Nach dem Deuteronomium, das am Beginn dieses großen Geschichtswerkes steht, nennt man es das Deuteronomistische Geschichtswerk. Es ist deutlich, dass hier ein Zeitraum von vielen Jahrhunderten erzählerisch dargestellt wird.
Der Anfang dieses Werkes ist im 5. Buch Mose durch die letzte Rede des Mose vor seinem Tod markiert. Das Ende ist mit dem Untergang Jerusalems und der Eroberung Judas durch die Neubabylonier ebenso deutlich markiert. Dazwischen finden sich – besonders in den Büchern der Könige – immer wieder Zeitangaben. Die Könige des Nordreiches Israel und des Südreiches Juda werden zueinander in Beziehung gesetzt, Regierungszeiten werden aufgelistet. Es entsteht also ein genaues chronologisches System. Das Deuteronomistische Geschichtswerk hält also vergangenes Geschehen, hält Geschichte fest und bewertet sie dann theologisch. Dieses Werk bietet also theologische Geschichtsschreibung. Dahinter steht deutlich ein lineares Zeitverständnis: Jeder Moment dieser Geschichte ist einmalig und unwiederholbar. Die Geschichte Israels schreitet durch die Jahre und Jahrhunderte immer weiter fort: Sie wäre somit als Pfeil darzustellen. Und in dieser weiterlaufenden Geschichte handelt der Gott Israels, immer wieder aufs Neue, an immer wieder anderen Punkten dieses Weges durch die Zeit.
Dieses geschichtliche Denken hat das alte Israel stark geprägt. Es findet sich auch in anderen Erzählkomplexen, etwa den Erzählungen von den Erzvätern, vom Aufenthalt Israels in Ägypten, vom Exodus und vom Zug durch die Wüste. Auch in diesen Komplexen wird implizit davon ausgegangen, dass jeder Moment einmalig ist, dass Zeit vorangeht, dass Zukunft sich nicht aus der Vergangenheit ergibt.
Von diesen Schriften der Hebräischen Bibel her ist das Zeitverständnis des Judentums geprägt worden. Das frühe Christentum, das aus dem Frühjudentum des 1. Jahrhunderts nach Christus hervorgegangen ist, hat dieses lineare Zeitverständnis übernommen. Auch im Neuen Testament spielt die Dimension der Geschichte eine entscheidende Rolle, vom Auftreten Jesu bis hin zur Entstehung der frühen Kirche. Besonders der Evangelist Lukas denkt in geschichtlichen Prozessen. Dass unser heutiges Denken Zeit vorwiegend linear versteht, ist darauf zurückzuführen, dass das Abendland in dieser Hinsicht vom Christentum geprägt worden ist. Und auch die heutigen säkularen Konzeptionen, die ein lineares Zeitverständnis propagieren, sind letzten Endes vom alten Israel beeinflusst. Insofern hat das geschichtliche Denken und das lineare Zeitverständnis des alten Israel weitreichende Nachwirkungen gehabt, bis in die unmittelbare Gegenwart.
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