Du hast zwei Leben, hieß es in Computerspielen, die meine Kinder früher spielten. Wenn das erste Leben gescheitert war, konnte sich die kleine Figur erneut auf ihren abenteuerlichen Weg über den Bildschirm machen und versuchen, ihr zweites Leben besser zu meistern. Ist das nicht großartig? Diese Vorstellung ist indes nicht neu und keine Idee unseres Computerzeitalters. Sie bewegt die Menschen seit je, in ihr gründet die Hoffnung auf jenseitiges Leben, auf Wiedergeburt und Neubeginn, in ihr gründen Utopie, Fantasie und Fiktion. Wünschen wir uns nicht immer wieder eine zweite Chance, sehnen wir uns nicht gerade in diesen schwierigen Zeiten nach einem besseren Leben?
Faszinierend finde ich Entdeckungen in alter und neuer Literatur. Lassen Sie uns gemeinsam kurz auf drei Beispiele schauen, die uns helfen, die Frage nach den zwei Leben zu reflektieren. Den berühmten Entwicklungsroman „Der grüne Heinrich“ von Gottfried Keller etwa gibt es gleich zweimal. Der Autor hatte sein eigenes Leben als gescheiterter Maler im Blick, als er kaum 30-jährig Mitte des 19. Jahrhunderts begann, die Geschichte des gescheiterten Malers Heinrich Lee zu schreiben. In aller Ausführlichkeit schildert Gottfried Keller Leben und Lieben seines jungen Protagonisten und lässt ihn dann nach missglückten Versuchen einer Künstlerkarriere in seine Schweizer Heimat zurückkehren und sterben. Etwa 30 Jahre später, der Autor selbst ist mittlerweile 60 Jahre alt und ein angesehener Schriftsteller, erscheint eine zweite Fassung des Romans, die mehr oder weniger genau das gleiche Leben von Heinrich Lee erzählt. Am Schluss aber lässt Keller seinen Heinrich, in die Heimat zurückgekehrt, nicht sterben, sondern schreibt ihm ein neues Leben zu, das auf nur wenigen Schlussseiten des Buches erzählt wird: Der „grüne Heinrich“ wird Oberamtmann und kann in „bescheidener und doch mannigfacher Wirksamkeit in der Stille leben“. Sogar ein geradezu fantastisches unbeschwertes freies Liebesglück wird ihm noch zuteil: Die schöne Judith, Heinrichs wunderbare Jugendliebe, hat von seiner gescheiterten Karriere gehört und ist eigens aus Amerika zurückgekommen: „Als ich so dein Unglück vernahm, packte ich unverzüglich auf, um zu dir zu kommen und bei dir zu sein!“ So erfindet der Autor seinem Protagonisten im Rückblick ein neues angenehmes zweites Leben. Er selbst hat inzwischen nach seinem hochverschuldeten Künstlerleben 15 Jahre als Beamter gutes Geld verdient, in Liebesdingen aber keineswegs das Glück gehabt, das er seinem Alter Ego, dem „grünen Heinrich“ andichtet. Es ist spannend zu sehen, dass die Fiktion in der ersten Fassung härter ist als das wirkliche Leben Gottfried Kellers, der gealterte Autor seinem fiktiven Heinrich aber ein glücklicheres Leben gönnt, als er es in der Realität erfahren hat.
Schauen wir auf einen anderen Ihnen sicherlich auch bekannten Autor, der uns Mitte des 19. Jahrhunderts sein Leben erzählt. Heinrich Heine schreibt zu seinem Lebensende „Geständnisse“ und diskutiert dabei vor allem die Zeit seines öffentlichen schriftstellerischen Wirkens in Paris. Dem inzwischen bettlägerigen Kranken in der Abgeschiedenheit seiner Pariser Matratzengruft geht es darum, seinem Publikum klarzumachen, wie sich seine Blicke auf Religion und Philosophie geändert haben. Er fiktionalisiert seine Geschichte nicht wie Gottfried Keller, sondern präsentiert der Öffentlichkeit sein eigenes öffentliches Leben. Interessanterweise schreibt er etwa zu gleicher Zeit auch ein deutlich privateres Buch, seine „Memoiren“, die er – und das klingt sehr viel fiktionaler – als „das Märchen“ seines Lebens bezeichnet. Hier konzentriert sich Heine auf seine Düsseldorfer Zeit, erzählt von Vorbildern und Elternbildern sowie von ersten Schul- und Liebeserfahrungen. Fast mag es scheinen, als ob der Autor uns mit seiner doppelten Autobiographie zwei verschiedene Leben erzählt. Ist das private Leben glücklicher als das öffentliche Leben, gibt es im Vergleich von Kindheit, Jugend und Erwachsensein ein besseres Leben? Mag der Tonfall in den „Geständnissen“ politischer und polemischer sein, mögen seine „Memoiren“ eher poetisch, auch melancholisch grundiert sein, Heines Witz blitzt und leuchtet durch beide autobiographischen Schriften. Schauen wir genauer hin, so zeigt sich, dass ‚zwei Leben‘ ineinander verwoben sind und sich in beiden, wenn auch in ganz anderer Weise „Wechselwirkung äußerer Begebenheiten und innerer Seelenereignisse“ offenbart. In beiden gibt es Glück und Unglück. Im Zusammenklang erzählen beide Werke aus verschiedenen Perspektiven letztlich ein Leben, denn: „Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen.“ Ein neues Leben, ein besseres Leben, so sagt Heine in seinem „Wintermärchen“, gibt es nur als Utopie, in der Fiktion, im Lied: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, o Freunde, will ich euch dichten …“.
Lassen Sie uns zum Schluss noch sehen, was eine Autorin unserer Zeit zu der Frage nach den zwei Leben zu sagen hat. Das Thema der Wiedergänger hat die Fantasie der Menschen seit eh und je angeregt. Wie wäre es, wenn wir nach unserem Tod ins Leben zurückkehren könnten, gäbe es eine zweite Chance? Sibylle Lewitscharoff lässt 2019 in ihrem Roman „Von oben“ einen Philosophen nach seinem Selbstmord die Stadt seines Lebens, Berlin mit allen ihm bekannten und unbekannten Menschen, aus neuer Perspektive erfahren: als Seele, die unmittelbar über Berlin schwebt, in die Fenster hineinschaut, viel Neues erfährt, aber auch zurückdenken kann an früher Erlebtes. Sie sieht Einsamkeit, Dummheit, Lieblosigkeit, Grausamkeit, Geldgier und Falschheit und muss sich bestätigt fühlen: „Will man mir zeigen, daß das Leben schlimmer sein kann als der Tod?“ Die an Krebs gestorbene Frau des Protagonisten, seine angebetete schöne und kluge Marie, hatte am Ende, so hören wir, ein Verhältnis mit seinem besten Freund. Jedoch gibt es auch Spuren von Mitmenschlichkeit und Erinnerungen an Liebesglück, vor allem ist Literatur bedeutsam und noch viel hilfreicher ist das Hören von Musik: „Mit Klängen kann man besser als mit Worten Höhe gewinnen.“ Romantische Liedtexte, Gedichte, die Matthäus-Passion und etwa der Gesang von Bruce Springsteen vermögen die kritische Philosophenseele so zu berühren, dass sie unbändig Leben herbeisehnt. Trotz aller bitterbösen Gesellschaftssatire und -kritik hat Sibylle Lewitscharoff ein Plädoyer für das Leben geschrieben. Die zweite Chance immerhin hat das Ich genutzt, sein Leben zu reflektieren. Wir jedoch, die Leserinnen und Leser, können es auch noch mit Leib und Seele genießen.
Es heißt für uns also nicht wie im Computerspiel: zurück auf Anfang. Vielmehr können wir in jedem Moment einhalten und uns neu erfinden. Schon der Prozess des Lesens selbst konfrontiert uns immer wieder mit neuen Leben, in deren Welt wir eintauchen oder die wir kritisch hinterfragen können. Du hast zwei Leben, das kann für uns bedeuten, Alternativen zu reflektieren und sei es auch nur, das Leben aus neuer Perspektive zu betrachten. Wie anders ein Leben sein kann, je nachdem, wie wir darauf schauen, je nachdem, welches Narrativ wir wählen, das können wir nicht zuletzt der Literatur ablesen.