Eine Kirche mit messianischer Zukunft ?

von Dr. Martin Fricke

Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht: „Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.“ Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.       (Johannes 12,12-19)

Das Evangelium des Sonntags Palmarum erzählt von falschen Erwartungen: Die Volksmenge ist bereit, dem ersehnten König Israels in Glanz und Gloria und mit großem Gefolge zu huldigen. Aber es kommt ein verhärmter Wanderprediger auf einem jungen Esel, dem Tier der Armen, mit einem Trupp einfacher Fischerleute. Bei den einen Enttäuschung, bei den anderen ahnungslose Neugier, bei den Pharisäern Unverständnis: „Haben wir´s doch gewusst – er ist ein Blender!“

Ich möchte uns fragen, wie es um unsere Erwartungen steht: Welche Hoffnungen setzen wir auf diesen Jesus von Nazareth? Was suchen wir in seiner Kirche? – In der Schule lese ich in jedem meiner Oberstufen-Kurse einen mittlerweile fast 50 Jahre alten Zeitungsartikel. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat ihn unter dem Titel „Eine Religion ohne messianische Zukunft“ in der Süddeutschen Zeitung geschrieben.[1] Auch er hat sich die Frage gestellt, wen und was wir eigentlich in und von der Kirche erwarten. An seiner Antwort mag man sich reiben. Aber Reibung ist Bewegung, und Bewegungsenergie tut uns gut, wenn wir in diesen Tagen über die Zukunft der Kirche nachdenken. Im Idealfall erzeugt sie Wärme, und die haben wir bitter nötig.

Johann Baptist Metz gehörte mit Dorothee Sölle und anderen zu den Vertretern der sogenannten Politischen Theologie. Nicht die Schuld, so sein Credo, ist der ursprüngliche Zentralbegriff des Christentums, sondern das Leiden. Paulus sah vor allem die große Sünde des Menschen. Seit Adam und Eva haben wir uns von Gott abgewandt, allein der Glaube an Jesus als den Christus macht uns vor ihm gerecht. In ihm ist all´ unser Versagen in dieser Welt in der höheren Gerechtigkeit Gottes aufgehoben. Vor Gott muss sich niemand mehr schämen – wenn er oder sie nur glaubt. Mit dieser Botschaft konnte Paulus in unbändigem missionarischem Eifer Gemeinden gründen. Freilich nicht ohne mit seiner Predigt einer höheren Gerechtigkeit etwas selbstgerecht daher zu kommen. Denn die vielen Ungerechtigkeiten in der Welt, in der wir leben, scheinen für ihn vollkommen bedeutungslos gewesen zu sein.

Jesus dagegen sah nicht nur die Scham, sondern auch den Schmerz in dieser Welt. Er hat sich bedingungslos und unmittelbar denen zugewandt, die leiden. Er deutete Ihr Leiden nicht als Sünde oder Schuld, ihm ging es auch nicht um die Relativierung von Unterschieden, er ergriff Partei für die Unterjochten, hob ihr Elend auf – hier und jetzt. Wenn man so will, behauptet die Politische Theologie, dass in unseren Kirchen viel zu viel Paulus und viel zu wenig Jesus wohnt.

Aber zurück zu dem eingangs erwähnten Zeitungsartikel: Jesus von Nazareth, so Johann Baptist Metz, ging zu Menschen, die in unserer Welt keinerlei Zukunft hatten; zu den Ausgestoßenen, den Parias, den absolut Perspektivlosen. Zu den Aussätzigen vor der Stadt, zu der Frau mit Blutfluss, die als unrein galt, zu dem Gelähmten, der es nicht einmal mehr zum Teich Bethesda schaffte. Ihnen brachte er eine neue Zukunft: die Zukunft der verheißenen Welt des Reiches Gottes.

Doch wer sind wir? Wir alle haben eine Zukunft in dieser Welt! Und sei die große Zukunft auch noch so angstbesetzt, jede und jeder von uns hat ihre oder seine kleine Welt, in der mit realistischen Perspektiven Träume gesponnen und Pläne ausgetüftelt werden können. Niemand von uns steht vor dem Nichts!

Es ist diese Zukunft, die wir mit in die Kirche bringen – um sie dort, so Metz religiös bestätigen und bestärken zu lassen. „Die messianische Zukunft“ aber, die Zukunft, von der Jesus sprach, „wird so vielfach zur feierlichen Überhöhung und Verklärung vorgefaßter bürgerlicher Zukunft (…). Die messianische Religion der Bibel ist weithin zur bürgerlichen Religion im Christentum unserer Tage geworden. In dieser bürgerlichen Religion ist die messianische Zukunft aufs äußerste bedroht.“

Was meint Metz damit? Lassen wir ihn noch einmal zu Wort kommen: „Unter dem Deckmantel bürgerlicher Religion klafft inmitten der Kirche ein Riß zwischen den öffentlich proklamierten, kirchlich verordneten und geglaubten messianischen Tugenden des Christentums (Umkehr und Nachfolge, Liebe und Leidensbereitschaft) und den tatsächlichen Wert- und Lebensorientierungen bürgerlicher Praxis (Autonomie, Besitz, Stabilität, Erfolg). Unter den Prioritäten des Evangeliums werden zu sehr die Prioritäten des bürgerlichen Lebens praktiziert.“ Auch nach 2000 Jahren erwarten wir den König, der unseren Vorstellungen von Macht, Glanz und Glamour gerecht wird.

Die messianische Zukunft Jesu aber sanktioniert nicht einfach unsere liebgewordenen Vorstellungen – sie unterbricht sie! Jesus reitet auf einem Eselsfüllen! Noch einmal Metz: „`Erste werden Letzte sein, und Letzte Erste.´ Diese Art von Unterbrechung heißt mit einem bekannteren biblischen Wort `Umkehr´, Umwendung der Herzen, metanoia. Und auch die Richtung dieser Umkehr, ihr Weg, ist für Christen vorgezeichnet. Er heißt Nachfolge, Nachfolge Jesu.“

Wie steht es um diese Umkehr, diese „Umwendung der Herzen“, in unserer Kirche? „Kehren wir um oder glauben wir lediglich an die Umkehr und bleiben unter dem Deckmantel der geglaubten Umkehr die alten?“

Ich stelle mir und uns diese Fragen von Johann Baptist Metz unter dem Eindruck eines Workshops, den wir in der Runde der Leitenden unseres Kirchenkreises kürzlich zu unserem Prozess hatten, als eine Evangelische Kirche in Düsseldorf zusammenzuwachsen. „Sehnsucht, das eigene Idyll zu bewahren“ stand da plötzlich auf dem Flipchart. Ja, ich glaube, dass genau diese Sehnsucht ein ganz entscheidender Motor sowohl der Treiber als auch der Widerständler auf dem Weg ist, den wir gehen wollen. Wir wollen retten und bewahren, was wir haben. Aber sollte das das Ziel unser aller Überlegungen zu neuen Organisationsformen, zu sichtbarer Präsenz und nicht zuletzt zu einer lebendigen Verkündigung des Evangeliums sein? Was sollte uns tatsächlich in Bewegung versetzen: das Idyll der uns liebgewordenen Zukunft – oder die messianische Zukunft eines Reiches, das nicht von dieser Welt ist? Wo lassen wir uns – in unseren Kirchenreformprozessen, aber auch in unserem persönlichen Alltag – wirklich unterbrechen? Lassen wir uns überhaupt noch unterbrechen?

Vielleicht gewinnen wir nur im Stellen solcher Fragen Zukunft – eine neue Zukunft: eine Zukunft mit messianischer Hoffnung.

Seien Sie behütet!


[1] Nr. 231, 16./17. September 1978, Seite 11

Foto: Paralacre-Christ des Rameaux, Musée OND de Strasbourg 1.jpg-wikikendia commons

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