Buchbesprechung: Martin Hägglund, Dieses eine Leben, Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus, Beck-Verlag 2024
Dieses Jahr fiel der Ostermontag auf den ersten April. Ein Aprilscherz? Das zufällige kalendarische Zusammentreffen zweier verschiedenere Ereignisse gibt mir die Gelegenheit, die am 14. März 2024 (zur Ostersaison!) erschienene deutsche Übersetzung des in Yale lehrenden Philosophen Martin Hägglund zu besprechen (englisch schon 2019 erschienen als „This Life: Secular Faith and Spiritual Freedom“)
Das Buch beginnt mit einem Zitat aus Emily Brontës Roman „Sturmhöhe“: Cathy, eine der Hauptpersonen, träumt, sie wäre im Himmel, fände dort allerdings kein zu Hause, verzweifelt, wird von den Engeln wieder herausgeworfen auf die Erde und erwacht schluchzend vor Freude auf dem Gut „Sturmhöhe“, wo sie eingeschlafen war. Das (für Cathy extrem unerfreuliche) Leben auf dem Gut ist besser als im Himmel, denn dort, so meint Hägglund, müsse es langweilig sein, weil es keine Veränderung gebe und keine Aufgaben. Die Ewigkeit werde Handlungen bedeutungslos machen, doch was könnte noch menschlich am menschlichen Leben sein, wenn es nichts mehr zu verändern gibt? Handelt es sich überhaupt noch um menschliches Leben, wenn sich nichts verändert? Schließen Mensch-Sein und Ewigkeit nicht einander aus?
Hägglund betont den Sinn der Endlichkeit menschlichen Lebens. Menschliches ist Leben ist lokal und zeitlich begrenzt. Die Einsicht in die eigene Sterblichkeit ist zwar schmerzhaft, doch letztlich Voraussetzung für alles sinnvolle Handeln, für Fürsorge, Nächstenliebe oder Kampf gegen den Klimawandel. Leben ist begrenzt und mit dem Risiko des Scheiterns verbunden. Religionen hingegen betonen (seiner Meinung nach) die „Nachrangigkeit des Endlichen gegenüber dem Ewigen“ (15), wofür er sich auf den besonders in den USA sehr populären Psychologen und pragmatistischen Philosophen William James (1842-1910) beruft. Gegen Ende des Buches entdeckt er einen „säkularen Glauben“ auch schon bei beim Philosophen Hegel, wenn auch in komplizierten trinitarischen Formeln versteckt, die Hägglund säkular zu entschlüsseln versucht. Hegel hatte, und darin sieht Hägglund einen Schritt in die richtige Richtung, die Inkarnation Christi, die Menschwerdung, besonders betont: Gott (‚die Ewigkeit‘?) wird von einer Frau in Bethlehem geboren, wird Mensch, lebt.
Hägglund nennt die Einsicht in die eigene Sterblichkeit einen „säkularen Glauben“, säkular, weil er von der Begrenztheit menschlichen Lebens ausgeht und ohne Transzendenz auskommt. Doch warum „Glaube“? Mich erstaunte das. Der Philosoph Karl Jaspers hat schon im Jahr 1948 einen „philosophischen Glauben“ gefordert, womit Jaspers eine Sinnbasis der menschlichen Existenz meinte, eine Gewissheit, dass es die Transzendenz, das absolute Sein oder Gott gibt, ohne dass dieser Glaube aber irgendeine Sicherheit garantieren oder ein Wissen von der Transzendenz bzw. Gott vermitteln kann. Die meisten Philosophen konnten Jaspers nicht folgen und sahen im „philosophischen Glauben“ eine Begriffsverwirrung, die Theologie spottete sowieso: „Jasperletheater“ sagt Karl Barth.
Ich sehe manche Gemeinsamkeiten zwischen Jaspers „philosophischem“ und Hägglunds „säkularem Glauben“, und halte beide für gleichermaßen inkonsequent. Ich hätte es für besser gehalten, wenn Hägglund das eigene Vorgehen nur „säkular“ genannt hätte, und nicht auch noch einen „Glauben“, sehe meine eigene Aufgabe als Theologe allerdings nicht darin, das Geschäft des Philosophen selbst zu betreiben. Mich beeindruckt mich Hägglunds Argumentation, was die Endlichkeit und Begrenztheit menschlichen Lebens angeht durchaus. Im Ergebnis kommt sie mir allerdings weniger neu und innovativ vor, denn ich finde das auch schon im Alten Testament: „HERR […], lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90,12). Ich teile Hägglunds Skepsis gegenüber einem Glauben an „die Ewigkeit“, bezweifle allerdings, dass alle Religionen an „die Ewigkeit“ glauben. Ich lasse den Buddhismus, um den er sich sehr bemüht hat, einmal beiseite: Ich glaube an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, einen „lebendigen Gott“ (z.B. Jer. 10,10), und das ist nicht dasselbe wie an „die Ewigkeit“.
Hägglund konstruiert „die Ewigkeit“ als Gegensatz zu Endlichkeit, Zeitlichkeit und Begrenztheit. Leben ist zeitlich, endlich und begrenzt, und passt daher nicht zu Ewigkeit. Ich finde: Da hat er recht. Doch dem biblischen Gott sagt man nach, dass er selbst auch ‚lebt‘: Er zürnt den Menschen, er straft, dann reut es ihn wieder, er tut etwas oder er tut auch nichts, er segnet und erbarmt sich, man kann ihn um etwas bitten und dann tut er es auch (oder auch nicht). Die Bibel ist voll von Geschichten, in denen Gott irgendetwas macht, tut, empfindet oder nicht tut. Im neunzehnten Jahrhundert hat man das peinlich berührt hingenommen und als „Anthropomorphismen“ ausgeschieden; die Autor:innen der Bibel, so befand man, waren noch nicht so aufgeklärt wie wir, sie stellten sich Gott wie einen Menschen vor und hatte noch nicht begriffen, dass Gott gar nicht handeln, fühlen oder empfinden kann. Doch gab es im Umfeld der griechischen Philosophie Menschen, die es (angeblich) besser wussten: Gott war das Sein selbst, der Grund des Seins, der Unveränderliche und nicht-Leidende, die Ursache dafür, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, der „unbewegte Beweger“, der die Welt als Ganzes am Laufen hält, aber nicht eingreift. Mit guten Argumenten müht Hägglund sich, diese „Ewigkeit“ für irrelevant zu erklären. Nur trifft er damit den Kern der biblischen Botschaft nicht. Vielmehr baut er sich erst einen Pappkameraden auf und schießt ihn dann wieder ab.
Wenn ich jogge und irgendein hüfthoher Kampfhund auf mich zugerast kommt, ruft bestimmt von hinten Herrchen oder Frauchen: „Der tut nichts“. Bisher hat sich das trotz meiner Angst, wenn der Hund an mir hochspringt, als zutreffend erwiesen. Ich wurde noch nie gebissen. Aber Gott? Tut der auch nichts? Hägglund scheint das vorauszusetzen. Er geht davon aus, dass „die Ewigkeit“ nicht handelt, nicht einmal beißt.
Ich kann Hägglunds Gedanken, das begrenzte leibliche Leben im hier und jetzt zu würdigen, sehr viel abgewinnen. „Es gibt ein Leben vor dem Tod“, sagt ein bekannter Kirchenwitz. Ich empfinde diese Aussage als wichtig und sogar als biblisch; dass man sie sich als Witz erzählt, signalisiert Defizite im kirchlichen Leben, zeigt jedoch auch, dass es immer auch um das irdische Leben geht bzw. gehen sollte. „Uns die Erde, den Kirchen der Himmel“, das war die Arbeitsteilung, die Goebbels einforderte, damit die Kirchen sich nicht in die Politik einmischten. Diese klare Scheidung konnte nicht funktionieren. Religion wird auf der Erde praktiziert und hat es immer auch mit dem Leben vor dem Tod zu tun. Dies wird sogar anhand jenen biblischen Passagen deutlich, in denen das „irdische Jammertal“ beklagt und die Sehnsucht auf ein besseres Leben beschworen wird. „Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln, die durch das Jammertal gehen und machen daselbst Brunnen; und die Lehrer werden mit viel Segen geschmückt. Sie erhalten einen Sieg nach dem andern, daß man sehen muß, der rechte Gott sei zu Zion.“ (Psalm 84, 5-7, Lutherübersetzung von 1912). Hier werden die Menschen schon im „Jammertal“ (Luther 2017 übersetzt: „dürres Tal“) dazu aufgefordert, Brunnen zu bauen. Daraus werden sie schon jetzt in der Wüste ‚Gewinn‘ ziehen könnten (nicht erst „in der Ewigkeit“). „Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“, schreibt Paulus der Gemeinde in Philippi (Phil. 1, 21). Hier könnte man in der Tat meinen, dass der Hinweis auf „die Ewigkeit“ das irdische Leben entwertet. Doch schrieb Paulus das als Untersuchungshäftling in einem der furchtbaren römischen Kellerverliese in Erwartung eines Prozesses, der möglicherweise mit der Todesstrafe enden könnte: „Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen. Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben“. (Phil. 1,23-25). Paulus vertröstet sich selbst keineswegs auf das Jenseits, sondern klammert sich verzweifelt an den letzten Strohhalm: Entweder Hinrichtung oder Freilassung: So: so oder so werde er der (irdischen) Gemeinde zu Philippi zu Nutzen sein.
Im Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ fragt Friedrich Graf Spee von Langenfeld: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, Darauf sie all‘ ihr‘ Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, Komm tröst uns hie im Jammertal.“ Auch hier ist der „Himmel“ vom irdischen „Jammertal“ keineswegs absolut als „die Ewigkeit“ vom „zeitlich begrenzten Leben“ geschieden. Ausdrücklich ist vom Trost „hie“ (=hier) die Rede, getröstet wird im „hier“, und zwar dadurch, dass der Heiland den Himmel „aufreißt“ und „ein Tau“ vom Himmel gießt. Die veränderte Langfristperspektive, soll Unterschiede zwischen Himmel und Erde keineswegs einebnen, doch schon die gegenwärtige Wüste verändern: „O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal grün alles werd‘ “.
Interessanterweise funktionieren ausgerechnet die biblischen Ostergeschichten nicht so, dass die Jenseitsbotschaft das Diesseitige entwertet, im Gegenteil. Nach der Kreuzigung zerstreuen sich die Jüngerinnen und Jünger, sind gescheitert und verzweifelt. Sie erwarten nichts mehr, auch ein etwaiger Glaube an die Ewigkeit hätte sie nicht mehr trösten können, müssen sie doch im hier und jetzt leben. Doch dann kommen unerwartete und unerhoffte Begegnungen mit dem Auferstandenen, die keineswegs ihre Fragen angesichts der Kreuzigung beantworten, sondern neue Fragen aufwerfen: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich.“ (Mk. 16,8). Im Matthäusevangelium verlassen sie das Grab „voller Furcht und großer Freude“ (Mt. 28,8), anders als bei Markus sagen sie es weiter und werden im sog. Missionsbefehl auch ausdrücklich dazu ermuntert. Im Lukasevangelium reden die Frauen ebenfalls, die männlichen Apostel halten das für „leeres Geschwätz“. Doch Petrus, der Jesus dreimal verleugnet und sich anschließend verdrückt hatte, schaut sicherheitshalber doch noch einmal nach, geht zum Grab, findet „Leinentücher“ und „wundert sich über das, was geschehen war“ (Lk. 24,12), aber begreift nicht. Auch die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus begreifen nicht: Jesus läuft ihnen als unbekannter Fremder über den Weg, erklärt ihnen vieles, aber sie versehen nicht; erst als der Fremde mit ihnen Abendmahl feiert und vor ihren Augen verschwindet, dämmert ihnen, wer das gewesen sein könnte: „Brannte nicht unser Herz, da er mit uns auf dem Wege redete und uns die Schrift öffnete?“ (Lk. 24,32). Und schließlich das Johannesevangelium: Als die Frauen vom leeren Grab berichten, rennt der Lieblingsjünger mit Petrus um die Wette zum Grab. Der Lieblingsjünger gewinnt den Zweikampf, sieht die Tücher liegen, ist aber zu feige, um in die Höhle zu gehen. Ausnahmsweise ist Petrus einmal mutig und geht voran, nur versteht er nicht. Nachdem Petrus den Bann gebrochen hat, traut der Lieblingsjünger sich doch noch und versteht auch als erster, die anderen Jünger aber nicht. Dann kommt noch Maria Magdalena. Erst sie begegnet Jesus, redet sogar mit ihm, verwechselt ihn allerdings mit dem Gärtner. Auch hier dämmert es den Jüngern erst beim anschließenden Abendmahl, als Jesus ihnen die Wundmale zeigt. Dem ungläubigen Thomas, der erst am nächsten Tag auftaucht, reicht der Anblick der Wundmale nicht (sind sie vielleicht nur aufgemalt?), er will die von den Nägeln in den Händen verursachten Löcher anfassen. Jesus ist nicht so Jenseitig, dass das nicht auch möglich wäre. Was Thomas mit den Händen „begreift“, versteht er. Jesus kommentiert allerdings: „Seelig sind, die nicht sehen, und doch glauben“ (Joh. 20,30).
All diese unterschiedlichen und zum Teil auch konfusen Ostergeschichten handeln von dem Durcheinander, das entsteht, wenn die Sphären nicht streng geschieden bleiben, sondern das sog. „Ewige“ (wenn ich diese schwierige Terminologie einmal benutze) ins zeitlich und räumlich begrenzte Leben einbricht und die Schranke durchbricht. Ausgerechnet in den Ostergeschichten geht es weniger um das „Ewige Leben“, als um den neuen Schwung, den die Begegnung mit dem Auferstandenen den Verzweifelten schon vor dem Tod verleiht. „Ewigkeit“ und „Zeitlichkeit“ lässt sich nicht so reinlich scheiden, wie Hägglund das gerne hätte. Deshalb geht es in den Ostergeschichten so konfus zu. Mit besonders schrägen Metaphern hat Martin Luther das bedichtet:
Es war ein wunderlicher Krieg, | |
Da Tod und Leben rungen; | |
Das Leben (da) behielt den Sieg, | |
Es hat den Tod verschlungen. | |
Die Schrift hat verkündig(e)t das, | |
Wie ein Tod den andern fraß, | |
Ein Spott aus dem Tod ist worden. | |
Alleluja! Die verbale Unterordnung Luthers hat Bach in seiner Kantate „Christ lag in Todesbanden“ (BWV) mit den Mitteln musikalischer Unordnung kongenial vertont, besonders gut zu verfolgen, wenn sie die Noten parallel sehen https://www.youtube.com/watch?v=nrq626ro5VU (ab: 11:32) Ganz ungeordnet wünsche ich Ihnen: Frohe Ostern! |