„Selig sind die, die da hungert und dürstet…“

Schlussplädoyer vor Gericht am 20. Februar 2021
Von Alexei Anatoljewitsch Nawalny:

eingestellt von Dr. Uwe Gerrens

Erinnerungsstätte St. Petersburg 16. Februar 2024, Bildrechte Wikipedia CC

„Selig sind die, die da hungert und dürstet…“

Schlussplädoyer vor Gericht am 20. Februar 2021
Von Alexei Anatoljewitsch Nawalny:

Nawalny eignet sich nicht zum Heiligen. Insbesondere mit seinen frühen nationalistischen, antiliberalen, z.T. auch homophoben Äußerungen kann ich nicht mit. Dennoch dokumentiere ich hier das letzte Wort, das er im Babuschkinski-Bezirksgericht von Moskau, angeklagt wegen Verleumdung eines Veteranen, nach seiner Rückkehr nach Russland gehalten hat (UG).

Ich muss so oft mein letztes Wort sprechen! Jetzt geht die Verhandlung zu Ende, und dann habe ich gleich die nächste, und da gibt es wieder ein letztes Wort. Wenn jemand irgendwann mal meine letzten Worte herausgeben sollte, wird das ein dickes Buch. Mir scheint, das ist ein bestimmtes Signal, das dieses ganze Regime und Wladimir Putin, der Herr des sagenhaften Palastes, mir senden wollen. Das sieht zwar seltsam aus, aber wir können das, schau, wir können das so machen. Wie ein Jongleur oder Zauberer, der im Gerichtssaal den Ball auf dem einen Finger kreisen lässt, dann, hopp, auf dem anderen, dann auf dem Fuß, dann auf dem Kopf. Und sie sagen: »Schau her, wir können dieses ganze Rechtssystem an einem beliebigen Teil unseres Körpers kreiseln lassen, was willst du gegen uns machen? Wir können tun, was wir wollen, schau nur, genau so.«

Aber ehrlich gesagt, ich glaube, das ist einfach nur Angeberei. Es stimmt, sie können mit mir machen, was sie wollen, und das tun sie auch. Aber ich bin schließlich nicht der Einzige, der das sieht. Bei den normalen Menschen, die das mit ansehen, hinterlässt das einen starken Eindruck. Weil jeder sich denkt: »Oha. Und wenn ich es mal mit der Justiz zu tun kriege? Welche Chance habe ich dann, irgendetwas zu erreichen?«

Aber nichtsdestotrotz, das letzte Wort steht an, also muss ein letztes Wort gesprochen werden. Ich weiß schon gar nicht mehr, worüber ich reden könnte, Euer Ehren. Wenn Sie wollen, spreche ich mit Ihnen über Gott? Und über das Seelenheil. Ich stelle sozusagen den Hebel für Pathos auf Vollgas. Ich bin nämlich ein gläubiger Mensch. Was in der Stiftung für Korruptionsbekämpfung und in meinem Umfeld ein regelmäßiger Anlass für Witzeleien ist. Die Leute sind ja meist Atheisten, ich war auch mal einer, sogar ein ziemlich militanter. Aber jetzt bin ich ein gläubiger Mensch, und das hilft mir sehr bei meiner Tätigkeit. Alles wird viel, viel einfacher dadurch. Wissen Sie, ich grüble weniger nach, ich stehe vor weniger Dilemmata in meinem Leben. Denn ich habe so ein Buch, in dem mehr oder weniger präzise beschrieben ist, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich an das Buch zu halten, aber im Großen und Ganzen bemühe ich mich. Und deshalb fällt es mir leichter als anderen in Russland, mich mit Politik zu befassen. Kürzlich hat mir jemand geschrieben: »Nawalny, dir sagen sie ständig: Halte durch, gib’ nicht auf, ertrage es, beiß’ die Zähne zusammen. Was hast du denn eigentlich zu ertragen? Du hast doch in einem Interview gesagt, dass du an Gott glaubst. Und es steht doch geschrieben: Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden. Also, es geht dir doch bestens.«  Und ich dachte: Wow, wie gut dieser Mensch mich doch versteht. Nicht, dass es mir bestens gehen würde, aber diesen konkreten Spruch habe ich eigentlich immer als eine Art Handlungsanweisung verstanden.

Natürlich bin ich nicht entzückt von dem Ort, an dem ich mich befinde. Aber trotzdem empfinde ich keinerlei Bedauern darüber, dass ich zurückgekehrt bin, oder über das, was ich tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Im Gegenteil, ich verspüre eine tiefe Zufriedenheit. Warum? Weil ich in einem schwierigen Moment getan habe, was in der Handlungsanweisung steht, und dass das Gebot nicht verraten habe. Und dazu etwas ganz Wichtiges: Ohne Frage klingt dieser Spruch – »die Seligen« – »die da hungern« – »die nach der Wahrheit dürsten« – »sie werden gesättigt sein« – für einen heutigen Menschen schwülstig. Es klingt schräg. Menschen, die solche Dinge sagen, wirken verrückt und seltsam. Solche Menschen sitzen mit zerrauften Haaren in ihrem Kämmerchen und versuchen sich mit irgendetwas aufzumuntern, weil sie Einzelgänger sind; und sie sind Einzelgänger, weil sie von niemandem gebraucht werden. Und das ist das Wichtigste, was die Macht, was unser ganzes System solchen Menschen einzubläuen versucht: Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger. Zuerst ist es wichtig, dir Angst einzujagen, und dann, dir zu beweisen, dass du allein bist. Wir sind schließlich normale, vernünftige Menschen, was soll man sich da an irgend so ein Gebot halten, meine Güte? Deshalb, wenn es um Einsamkeit geht – das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ein sehr wichtiges Ziel dieser Macht. Sehr schön hat das eine bemerkenswerte Philosophin namens Luna Lovegood ausgedrückt – erinnert ihr euch an sie in »Harry Potter«? Als sie sich mit Harry Potter in einem schwierigen Moment unterhält, da sagt sie: »Es ist wichtig, sich nicht allein zu fühlen. Denn an Voldemorts Stelle würde ich sehr wollen, dass du dich allein fühlst.« Unser Voldemort in seinem Palast will das mit Sicherheit genauso.

Im Konvoi zum Beispiel, oder die netten Burschen im Gefängnis, die sind alle völlig normal, aber sie reden nicht mit mir. Man hat ihnen scheinbar verboten, mit mir zu reden. Sie sagen nur das dienstlich Notwendige. Das ist auch so eine Maßnahme, damit du dich ständig allein fühlst. Doch ich fühle mich nicht so. Und ich erkläre gern, warum: Diese Konstruktion – »Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden« – mag exotisch und seltsam wirken. Aber tatsächlich ist das die bedeutendste politische Idee, die zurzeit in Russland existiert.

Euer Ehren, es gibt in Russland so eine Formulierung, die absolut populärste politische Phrase. Wie lautet das populärste politische Motto in Russland? Helfen Sie mir. Worin liegt die Kraft? Richtig, die Kraft liegt in der Wahrheit. Das ist der Satz, den alle wiederholen. Und da ist er wieder – der Spruch von der Seligkeit, nur ohne irgendein »die da dürsten«. Komprimiert auf Twitter-Format. Und das ganze Land wiederholt an allen Ecken und Enden, dass die Kraft in der Wahrheit liegt. Und wer die Wahrheit hinter sich hat, der wird siegen. Und das ist wichtig. Unser Land ist zwar jetzt auf Ungerechtigkeit gebaut, ständig haben wir mit dieser Ungerechtigkeit zu kämpfen, sogar mit der schlimmsten Form der Ungerechtigkeit, der bewaffneten. Aber trotzdem sehen wir, dass Millionen Menschen, zig Millionen Menschen zur Wahrheit gelangen wollen, und früher oder später wird es ihnen gelingen. Und sie werden gesättigt sein.

Denn für alle ist doch offensichtlich: Hier steht der Palast, und man kann noch so oft sagen: das ist nicht meiner, es gibt ihn nicht – er existiert. Und es gibt die Armen, da kann man vom hohen Lebensstandard reden, soviel man will, das Land ist arm, und das sieht jeder. Wo die Menschen doch reich sein müssten. Es wurden all die Ölpipelines gebaut, es wurde gut verdient, aber Geld ist keines da. Das ist die Wahrheit, und gegen sie kommt niemand an. Und früher oder später werden die Menschen, die die Wahrheit wollen, zu ihr gelangen. Sie werden gesättigt sein.

Und noch eine wichtige Sache, die ich Ihnen sagen will – Ihnen und der Staatsanwältin persönlich und überhaupt diesem System. Allen. Es ist wichtig, vor diesen Menschen keine Angst zu haben. Vor den Menschen, die nach der Wahrheit streben. Viele machen sich irgendwie Sorgen: »Mein Gott, was soll nur werden, die Revolution kommt, es wird Schrecken und Erschütterungen geben.« Aber denken Sie doch einfach mal nach, wie schön das Leben sein könnte, wenn diese ewige Lügerei nicht wäre. Ohne Lüge. Die Möglichkeit, nicht zu lügen, das ist eine sehr reizvolle Situation. Überlegen Sie mal, wie herrlich das wäre: Man arbeitet als Richter, und es gibt keine »Telefonjustiz«. Keiner ruft einen an. Man ist einfach ein toller Richter mit gutem Gehalt, wahrscheinlich ein höheres als jetzt. Eine geachtete Stütze der Gesellschaft. Niemand kann einen anrufen, niemand kann vorschreiben, wie man seine Fälle zu entscheiden hat. Und man geht zu seinen Kindern und Enkeln, und sagt: Ich bin tatsächlich ein unabhängiger Richter. Und auch alle anderen Richter sind völlig unabhängig. Und es wäre großartig, als Staatsanwalt in einem kompetitiven System aufzutreten und ein interessantes juristisches Spiel zu spielen, man beschützt jemanden oder bestraft echte Übeltäter. Menschen schreiben sich wohl kaum an einer juristischen Fakultät ein und werden danach Staatsanwalt, um bei der Fabrikation von Strafsachen mitzumachen und für irgendwen Unterschriften zu fälschen. Ich kann nicht glauben, dass jemand deshalb Staatsanwalt werden möchte. Und ich kann nicht glauben, dass jemand Polizist wird, um erzählen zu können: »Dem da haben wir auf der Demo aber ordentlich den Kopf gespalten! Und diesen Typen hier haben wir im Konvoi transportiert, obwohl er unschuldig ist. Wir hören uns jetzt sein nächstes letztes Wort an.« Niemand will so etwas! Niemand möchte so sein. Alle wollen ganz normale Polizisten sein. Diese Lügerei hat nichts als Nachteile, es gibt keine Vorteile, man wird noch nicht einmal besser bezahlt dafür. Nur Nachteile, keine Vorteile, für niemanden. Auch nicht für Selbstständige. Jedes beliebige Unternehmen im Land ist nur die Hälfte wert, weil die Justiz nicht funktioniert, wegen der Ungerechtigkeit, weil überall Chaos und Armut herrschen. Allen ginge es um vieles besser, wenn die Lügen und die Ungerechtigkeiten nicht wären. Alles wäre um vieles besser, wenn die Menschen, die die Wahrheit wollen, zur Wahrheit gelangen würden. Kein Mensch auf der Welt hat als Schulkind mit leuchtenden Augen gesagt: »Ich gehe mal zum Geheimdienst und dann schicken sie mich los, und ich werde die Unterhosen eines Oppositionellen reinigen, weil jemand Gift darauf geschmiert hat.« Solche Menschen gibt es nicht! Niemand will so etwas tun! Alle wollen normale, geachtete Menschen sein, wollen Terroristen, Banditen und Spione fangen.

Und deshalb ist es wichtig, keine Angst vor den Menschen zu haben, die keine Angst vor der Wahrheit haben. Und sie vielleicht sogar zu unterstützen. Direkt, oder indirekt. Oder zumindest der Lüge, diesem Lügengebäude, keinen weiteren Vorschub zu leisten, um die Welt um einen selbst herum nicht noch schlechter zu machen. Damit ist natürlich ein gewisses Risiko verbunden. Aber erstens ist es nicht groß, und zweitens, mit den Worten des führenden zeitgenössischen Philosophen Rick Sanchez: »Das Leben – ist ein Risiko. Aber wenn Du nichts riskierst, bist du nur ein Haufen zufällig zusammengesetzter Moleküle, der im Strom des Weltalls mitschwimmt«.

Um zum Schluss zu kommen: Ich bekomme jetzt sehr viele Briefe. Und ungefähr jeder zweite Brief endet mit dem Satz: »Russland wird frei sein«. Das ist ein tolles Motto. Ich sage es selbst auch ständig, ich wiederhole es, schreibe es als Antwort, skandiere es auf Demos. Aber ich denke immer: Irgendwie reicht mir das nicht. Das heißt, natürlich will ich, dass Russland frei wird, das ist unabdingbar. Aber das ist nicht genug. Das kann doch nicht das Ziel in sich sein. Ich möchte, dass Russland so reich wird, wie es seinen nationalen Reichtümern entspricht. Ich möchte, dass diese nationalen Reichtümer gerecht verteilt werden, dass jeder seinen Anteil vom Kuchen aus Öl und Gas bekommt. Ich möchte, dass wir nicht nur frei sind, sondern frei in einem funktionierenden Gesundheitssystem. Dass die Männer das Rentenalter erleben, denn zurzeit schafft es die Hälfte aller Männer nicht bis dahin, und auch den Frauen geht es da nur wenig besser. Ich möchte, dass es normale Bildungsmöglichkeiten gibt, dass die Menschen etwas lernen können. Und natürlich möchte ich, dass man für ein und dieselbe Arbeit in Russland dieselbe Bezahlung bekommt wie in irgendeinem durchschnittlichen europäischen Land. Denn zurzeit ist das viel weniger. Egal welche Arbeit: Polizist, Programmierer, Journalist, wer auch immer, alle verdienen viel weniger.

Es gibt noch viele andere Dinge, von denen ich mir wünsche, dass sie in meinem Land passieren. Wir müssen nicht nur damit kämpfen, dass Russland unfrei ist, sondern auch damit, dass es im Ganzen und in vielerlei Hinsicht unglücklich ist. Wir haben alles, und sind doch ein unglückliches Land. Schaut in die russische Literatur, die große russische Literatur, meine Güte, nichts als Beschreibungen von Unglück und Leiden. Wir sind ein unglückliches Land, und wir schaffen es nicht, aus dem Kreis dieses Unglücks auszubrechen. Aber natürlich wollen wir das. Und deshalb schlage ich vor, die Losung etwas abzuändern und davon zu sprechen, dass Russland nicht nur frei, sondern auch glücklich sein muss. Russland wird glücklich sein.

Übersetzung: Barbara Falk

Quelle https://nemtsovfund.org/de/2021/03/alexei-nawalny-zwei-letzte-worte/

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