„Kunst kann Leben retten“

Heinrich Heine, Antti Tuomainen und die Kraft der Literatur

Dr. Karin Füllner,
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Was haben Heinrich Heine, der größte deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts, und Antti Tuomainen, die aktuelle Nr. 1 aus Finnland (so die Werbung des Rowohlt-Verlages), miteinander zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts und bei genauerem Hinsehen doch unglaublich viel: Sie sind nicht nur europaweit bekannt, sie schreiben hanebüchene Geschichten und sie glauben an die Zukunft, vor zweihundert Jahren und gerade heute, trotz alledem!

Es klingt erschreckend aktuell, wenn Heine vor etwa genau zweihundert Jahren schreibt: „Es ist eine gar zu schlechte Zeit, und wer die Kraft und den freien Muth besitzt, hat auch zugleich die Verpflichtung, ernsthaft in den Kampf zu gehen gegen das Schlechte, das sich so aufbläht, und gegen das Mittelmäßige, das sich so breit macht, so unerträglich breit.“ „Gegen Gedankenschergen und Unterdrücker heiligster Rechte“ will er sich mit seiner Literatur wenden. In einer Besprechung heißt es: „Poesie und Prosa, Erfundenes und Erlebtes, Dichtung und Wahrheit; doch überall guckt des Dichters Subjectivität nicht blos durch: es ist das ganze Buch sein gedrucktes Ich“. Wenn Heine in den „Florentinischen Nächten“ seinen Protagonisten zunächst Henriko nennt, so bezeichnet er damit sehr deutlich das Alter Ego des Autors, später ändert er den Namen um in Maximilian. Bei Antti Tuomainen heißt der Protagonist Henri. Ein doppelter Heinrich also. Was setzen Henriko/ Maximilian und Henri der schlechten Realität entgegen? Außergewöhnliches, Unerwartetes, Makabres, Verrücktes, Fantasie und Mut.

„Hier stößt die Vorstellungskraft dann an ihre natürlichen Grenzen. Denn sie findet kein Ende. Sie ist ebenso weit und groß wie das Universum, und statt Antworten liefert sie am Ende immer eine weitere Frage. Verglichen mit der Vernunft ist sie eine rasante Motorradfahrt ohne Helm“, heißt es in Tuomainens neuem Roman „Die Biber-Methode“. Die Fantasie als gefährliches Road-Movie mit ungewissem Ende. Es geht um Leben und Tod. In Heines „Florentinischen Nächten“ werden „närrische Geschichten“ erzählt, „phantastisches Zeug“ von Marmorbildern und toten Frauen, vom Teufelsgeiger Paganini, dem Zwerg Türlütü und von einer im Grabe geborenen bezaubernden Tänzerin: schwarze Romantik von ihrer dunkelsten unheimlichen Seite und voller verführerischer Erotik zwischen Traum und Wachsein.

Bei Tuomainen lesen wir von „intensiven Alpträumen von kopflosen Männern auf Schneefeldern und von sterbenden Tänzern, und manchmal träume ich auch, dass mein Gesicht hellblau ist. Nach dem Erwachen wummert mein Herz in der Brust, und meine Finger krallen sich in die Bettdecke, ob ich will oder nicht.“ „Können wir doch manchmal die Realität nicht von bloßen Traumgesichten unterscheiden!“ heißt es bei Heine: „War es ein Gebilde meiner Phantasie, oder war es entsetzliche Wirklichkeit, was ich in jener Nacht hörte und sah? Ich weiß es nicht.“

Manchmal ist das Makabre beängstigend und evoziert die bedrohliche Realität, manchmal ist es so exaltiert und schräg, dass es ins Karnevaleske kippt. Der Zwerg Türlütü der „Florentinischen Nächte“ etwa stirbt in einer Kinderwiege. „Es war in der That ein betrübsamer Zustand worinn ich den Mann fand, der schon im achten Jahr mit Ludwig XVI. eine lange Unterredung gehalten, den der Zaar Alexander mit Bonbons gefüttert, den die Prinzessinn von Kiritz auf dem Schooße getragen, den der Pabst vergöttert und den Napoleon nie geliebt hatte! Dieser letztere Umstand bekümmerte den Unglücklichen noch auf seinem Todtbette, oder wie gesagt in seiner Todeswiege, und er weinte über das tragische Schicksal des großen Kaisers, der ihn nie geliebt, der aber in einem so kläglichen Zustande auf Sankt Helena geendet – ganz wie ich jetzt endige, setzte er hinzu, einsam, verkannt, verlassen von allen Königen und Fürsten, ein Hohnbild ehemaliger Herrlichkeit!“

Von Hohnbildern und Zerrfratzen, Monströsem und Wahnhaftem, Gespenstern und Vampiren, von Horror und Düsternis wissen sowohl Heine im Paris des 19. Jahrhunderts als auch Tuomainen im Helsinki des 21. Jahrhunderts erzählen. Mit „phantastischem Zeug“, hanebüchenen Geschichten wollen sie unsere Aufmerksamkeit gewinnen, zu unserem Unterbewusstsein vordringen, uns ablenken von unerträglicher Realität, uns im besten Sinne unterhalten. Denken Sie nur daran, dass die angesehensten Verlage heute mit großer Selbstverständlichkeit Kriminalromane publizieren. Sicherlich wissen Sie, dass sich schon seit Sophokles‘ „Ödipus“ die größten Namen unter den Kriminalautoren finden, etwa Schiller und Dostojewskij. Sicherlich wissen Sie auch, dass es heute ein Publikum gibt, das mit großer Begeisterung Zombie-Filme anschaut – Aki Kaurismäki, der finnische Kultregisseur, zitiert dieses Bedürfnis nach Finsternis ironisierend in seinem soeben erschienenen neuesten Kinofilm „Fallende Blätter“. Und stellen Sie sich vor, dass selbst kleine Mädchen sich schon schwarz verkleidet zu ihrem 6. Geburtstag einladen und Wednesday-Pullover tragen. Wenn Sie heute „Wednesday“ in die Suchmaschine eingeben, finden Sie zunächst nicht die deutsche Übersetzung „Mittwoch“, sondern die amerikanische Comedy-Horror-Fernsehserie. Horror ist angesagt, schon Mary Shelley erfand zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Frankenstein das bekannteste Monster der Filmgeschichte.

Aber Henriko und Henri bieten uns mehr als Horror, mehr als die Flucht aus der Realität. Nicht ums Wegschauen geht es, sondern ums genaue Hinschauen. Faszinierend ist, wie Kunst es immer wieder vermag, uns neue Blicke auf unseren Alltag zu eröffnen. „Mag sein, dass ich Kunst noch nicht richtig verstehen kann, aber die Kunst versteht mich. Sie hat mir diesen Moment Ruhe gegönnt, der meinen Blick geschärft hat. Kunst kann Leben retten“, lässt Tuomainen seinen Henri sagen. Das ist ein großer Satz.

Henri, der Versicherungsmathematiker, dem Wahrscheinlichkeitsrechnung alles bedeutet, erfährt die Möglichkeit neuer Perspektiven. Und dieser neue Blick generiert Hoffnung: „Wir werden es schaffen“, sagt Henri. „Es werden bessere Zeiten kommen. Früher oder später. Wir haben eine schwierige Phase. Aber es ist genau das, eine Phase. Der Frühling kommt. Die Sonne geht auf. Unser Park wird aufblühen. Wir werden das hier gemeinsam durchstehen.“ Woher kommen diese Worte? Und warum gerade jetzt? Früher hätte ich so was für kitschig gehalten. Inakzeptabel, weil nicht faktenbasiert. Jetzt ist das anders. […] Für Momente weiß ich nicht, was als Nächstes passieren wird, dann begreife ich. Alle umarmen mich. Ich stecke in der Klemme, sozusagen. In einer sehr angenehmen Klemme. Nein, in meinem früheren Leben wäre dergleichen undenkbar gewesen. Ausgeschlossen. Ich wäre peinlich berührt gewesen, mehr als das. Aber jetzt …“.

Heine ist der Dichter des neuen, des besseren Liedes, das er nach all den Zombie-Geschichten mit großem Pathos verkündet: „Ein neues Lied, ein besseres Lied/ O Freunde, will ich Euch dichten/ Wir wollen hier auf Erden schon/ Das Himmelreich errichten.“ Das Glück auf Erden „für alle Menschenkinder“ wird sein Credo. Schon sein Alter Ego in den „Florentinischen Nächten“ darf nicht nur Gruselgeschichten erzählen, sondern letztlich auch die Erfüllung seiner Liebessehnsucht mit der angebeteten Tänzerin erfahren: „Mademoiselle Laurence ließ mich aber nicht weiter reden, alle trübe Stimmung war von ihrem schönen Antlitz verflogen, sie lachte wie ein Kind und rief: ‚Ja, das ist schmählig, mehr als schmählig! Wenn ich eine Festung wäre und dreyhundert Kanonen hätte, würde ich mich nimmermehr ergeben!‘ Da nun Mademoiselle Laurence keine Festung war und keine dreyhundert Kanonen hatte ….“.

Kein Abwenden von der Realität, kein Verharren in Traumwelten führen uns Heine und Tuomainen vor, sondern nur ein Eingreifen kann zu neuer Hoffnung führen. Seine phantastischen Nacht-Geschichten hat Heine unter extremsten Zensurbedingungen geschrieben, später konnte er wieder etwas deutlicher werden und seine Europa-Vision begeistert formulieren, wenn auch immer noch zensiert wurde: „Die Jungfer Europa ist verlobt/ Mit dem schönen Geniusse/ Der Freyheit, sie liegen einander im Arm/ Sie schwelgen im ersten Kusse.“ Es ist das Glück der Zukunft, das Heine propagiert, im Wissen darum, dass für diese Zukunft zu kämpfen ist. Die Jungfer Europa ist verlobt und bis zur Hochzeit ist noch viel zu tun.

Dichtung ist nicht Politik. Sie wirkt, indem sie uns mit Poesie, Witz und Ironie anregt, der Düsternis zu trotzen, die Gegenwart kritisch zu hinterfragen und neue Wege zu gehen. Sie lässt uns immer wieder die Kraft der Hoffnung und der Liebe spüren und eröffnet uns damit Zukunft.

Auch Antti Tuomainen plädiert für den Glauben an eine zu gestaltende Zukunft, allem zum Trotz:

„Ich habe eine Reise hinter mir, und die war deutlich länger als die Strecke aus dem Norden in den Osten Helsinkis. Aus meiner Junggesellenwohnung in Kannelmäki nach Herttoniemi, zu Laura und Tuuli. Nein, die Reise war weiter. Die Reise meines bisherigen Lebens. Zwei Faktoren, die ich für unvereinbar gehalten habe, haben zueinandergefunden. Ich öffne die Tür und trete ein.“

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