Der Protestantismus ist krisengeeignet

Aber sicher: der Protestantismus ist krisengeeignet. Protestantismus und Krise gehören geradezu zueinander. Nicht so, dass der Protestantismus nur in Krisenzeiten brauchbar wäre. Nicht so, dass der Protestantismus sich quasi auf Krisen freut, um daraus Profit zu schlagen.

Sondern so, dass der Protestantismus gerade in Krisen wächst.

Das gilt schon und besonders für die Geburtsstunde des Protestantismus. Die Einsichten und die Aufbruchsstimmung des jungen Luther und seiner MitstreiterInnen verdanken sich der Reflexion der Krisen seiner Zeit.

Das ausgehende Mittelalter, das 14. und 15. Jahrhundert, ist geprägt von Epidemien.  Nachdem die Lepra einige Jahrhunderte die schlimmste medizinische Herausforderung war, taucht Mitte des 14. Jahrhunderts plötzlich die Pest auf. „Der schwarze Tod“ rafft mehr als ein Drittel der Bevölkerung dahin. Allmählich verschärfen sich die sozialen Konflikte. Um 1500 finden wir in den Städten erstmals so etwas wie eine proletarische Schicht und zahlreiche Bettler. Und auch auf dem Land verändern sich die Verhältnisse so, dass die arbeitende Bevölkerung kaum noch oder nicht mehr von ihrer Hände Arbeit leben kann. Dieser Konflikt sollte in den 1520ern in den Bauernkriegen münden. Die Situation ist so kritisch, dass es immer wieder zu Übergriffen gegenüber Sündenböcken kommt. Hexen werden verbrannt, Juden werden verfolgt.

Kulturanthropologen unserer Zeit (René Girard und andere) haben beschrieben, wie  ausgerechnet solche Exzesse den inneren Frieden vorübergehend wiederherstellen sollten.

Jede Angst braucht ein Ventil. Und alles, was irgendwie Sicherheit und Ordnung zu garantieren schien, hatte Konjunktur: Aberglaube, Verschwörungstheorien, Rituale und auch die berühmten Ablassbriefe.

Wenn ich dieser Tage meinen Mailaccount sichte, dann finden sich dort neben Nachrichten von Menschen, von denen ich lange nichts gehört habe, neben neuen Infos zum aktuellen Verlauf der Corona-Epidemie, auch zahlreiche Werbemails. Diese arbeiten mit dem gleichen Geschäftsmodell wie die Ablassbriefe: „Geld gegen Sicherheit.“ „Kauf bei mir ein, und es wird dir besser gehen.“ Quarantäne-Sets, völlig überteuerte Desinfektionsmittel und Ähnliches.

Der junge Protestantismus ist eine Art Protest gegen das Geschäft mit der Angst. Reformation ereignet sich nach dem nüchternen Eingeständnis, dass das Greifen nach Strohhalmen eben nicht dazu führt, dass der innere Seelenfrieden einkehrt. Die innere Dynamik und die äußere Strahlkraft der Reformation verdanken sich dem Umstand, dass die Protagonisten der Reformation alle Krisen ihrer Zeit, alle Schwankungen der Weltbilder, und alle Unsicherheiten radikal selbst durchlebt haben. Und sich dann die Frage gestellt haben: Was trägt? Was hilft wirklich?

Die Antwort auf diese Frage konnte damals wie heute nicht in Schlagworten bestehen. Nicht in religiösen Durchhalteparolen. Nicht in Vertröstungen zu singen nach der Melodie von „Heile, heile Gänschen“ oder „alles wird gut“. Die Antwort auf die Frage „was trägt“ ist eine Haltung. Die Antwort auf die erlebten Krisen ist die Haltung der Kritik. Kritik heißt im wörtlichen und ursprünglichen Sinne Unterscheidung. Kritische Theologie im Sinne Luthers ist Unterscheidungslehre. Es ist radikal zu unterscheiden zwischen dem was ich leiste, und dem liebenswerten Wesen, das Gott in mir sieht. Ich bin nicht das Produkt meiner Leistungen und/oder meiner Fehler.

Zuweilen ist radikal zu unterscheiden zwischen dem, was andere mir einreden wollen, und dem, was mein Gewissen mir sagt. Ich bin kein Herdentier, das sich von jeder Panik anstecken lässt, sondern ich bin eingeladen, meinem Gewissen zu lauschen.

Und es ist zu unterscheiden zwischen dem, was ich verstehen kann, und dem, auf das ich vertrauen darf. Ich bin nicht zur Resignation verurteilt, weil ich manches schlicht und ergreifend nicht verstehe. Aber ich bin eingeladen darauf zu vertrauen, dass Gott es gut meint mit den Menschen.

Am Ende also doch wieder nur schöne Worte? Nein: Am Ende die Aufforderung, ernst zu nehmen, dass eine Krise nie das Ende ist, sondern immer ein Anfang. Ein Anfang, der mich herausfordert, Unterscheidungen zu treffen. Zu allererst die Unterscheidung zwischen dem was mich hindert und dem was mich trägt.

Harald Steffes, Ev. Stadtakademie

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