Rassismus bedroht uns alle

Zwei Jahre danach: der Anschlag von Hanau und wir

von Sören Asmus

Am 19. Februar 2020 ereignete sich der „Amoklauf“ in Hanau, in dem neun Menschen ermordet wurden, weil sie der Mörder als „Ausländer“ angesehen hatte. Dieser Anschlag reiht sich ein in die Kette der vielen Anschläge in Deutschland (nicht erst seit Solingen, Mölln, Hoyerswerder und Rostock-Lichtenhagen) und weltweit (unter anderen Christchurch und Utøya und Oslo), bei denen die Ortsnamen für Tod und Leid stehen — Leid, dass die Konsequenzen von Rassismus und Menschenfeindlichkeit auch denen vor Augen führt, die nicht direkt davon betroffen sind.

Nach den „NSU“-Morden und dem Synagogen-Anschlag von Halle an der Saale war den Angehörigen der Opfer und auch uns als Gesellschaft diesmal wenigstens eine regierungsamtliche Instrumentalisierung der Gewalt für eine rassistische Agenda erspart geblieben, wie das noch in den 1990er Jahren der Fall war. Andererseits erleben wir das bedrückende Schauspiel, dass sich in der Corona-Pandemie Menschen als Verfolgte wahrnehmen, weil wir alle zu Solidarität verpflichtet werden. Dass der Staat Freiheitsrechte einschränkt, muss immer kritisch betrachtet werden, aber diese Einschränkungen sind offen angekündigt und werden öffentlich diskutiert. Rassismus dagegen schränkt die Freiheit von Menschen ein, weil sie Angst haben müssen, plötzlich und unvorhergesehen bedroht, beleidigt oder angegriffen zu werden. Die öffentliche Wahrnehmung der „Querdenker“ wünschte man sich für das Thema Rassismus. Denn ebenso wie Abstandsregeln, Gesichtsmasken und Impfungen betrifft Rassismus uns alle.

Zu Recht fordern die Angehörigen der Ermordeten von Hanau: Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen! (https://19feb-hanau.org/).

An Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin zu erinnern bedeutet, ihre Ermordung nicht hinzunehmen. Es bedeutet, Opfer von Rassismus nicht zu vergessen — diese wie auch die vielen, vielen anderen (https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/). Die Erinnerung hält fest: Die Opfer gehören zu uns allen, wir lassen ihre nachträgliche Ausgrenzung durch Vergessen und Verdrängen nicht zu.

Wir brauchen Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft, damit wir erkennen, wie sehr sich rassistisches Denken und Ignoranz durch unseren Alltag ziehen. Gerechtigkeit bedeutet, nicht nur von den Benachteiligungen und Beschädigungen zu reden, die Rassismus Menschen zufügt. Das ist wichtig, um der Behauptung zu widersprechen, dass das ja „nicht so schlimm“ sei. Es ist wichtig zu zeigen, wie Rassismus schädigt. Gerechtigkeit bedeutet aber auch, davon zu reden, wie sehr Rassismus diejenigen privilegiert, die nicht zu den Opfern zählen. Nicht nur die aktiven Rassisten profitieren von der Lüge, anderen überlegen zu sein. Zu den „Weißen“ zu gehören bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, die einen bestimmten Lebensstil bevorzugt, die sich um einen Teil der Mitmenschen nicht schert und deshalb das eigene Leben, die eigenen Vorurteile, die eigenen Selbstverständlichkeiten nicht befragen muss. „Weiße“, ebenso wie Männer, Besitzende, Hochgebildete, … , müssen nicht merken, dass das Leben in dieser Gesellschaft für sie eingerichtet scheint. „Weiße“ tragen keine Verletzungen von Herabwürdigung, Ausgrenzung, Ignoranz oder Verdrängung mit sich, ihre Vorfahren wurden nicht zu Objekten, Waren, Wilden und Untermenschen gemacht. Ihre Geschichte wird erzählt, gefeiert, gelehrt — als wenn es die anderen Menschen nicht gegeben hätte.

Um all diese Verstrickungen und all die „blinden Flecken“ in unserer Wahrnehmung aufzudecken, braucht es gerade auch die konkrete Aufklärung der Vorgänge um den 19. Februar 2020. Nicht nur die Angehörigen müssen wissen, warum der Täter Waffen haben konnte, warum die Polizei nicht schneller reagierte (reagieren konnte?), warum rechte Gesinnung weniger gefährlich angesehen wurde, als „islamistische Gesinnung“. Nur wenn Versagen, Unfähigkeit und Verantwortlichkeiten konkret benannt und aufgedeckt werden, können wir als Gesellschaft lernen, uns zu verändern. Nur so lässt sich eine folgenlose Schelte von „den Medien“, „denen da Oben“, „rechten Spinnern“ und anderen Statthaltern vermeiden. Aufklärung allein ermöglicht, dass wir uns unseres Verstandes bedienen, um unsere Zukunft zu gestalten. Aufklärung ermöglicht Kritik, die verstehen lässt. Aufklärung hat immer eine legale und eine philosophische Seite.

So aufgeklärt kann es zu Konsequenzen kommen — anderen als Wut, Hilflosigkeit und Trauer. Und diese Konsequenzen sind nötig, um als Menschen in diesem Land zusammen leben zu können. Wir haben Polizei, Gerichte, Behörden, damit wir alle sicher und unbedroht leben können. Wir haben Medien, Öffentlichkeit, Kommunikation, damit wir alle einander wahrnehmen und von einander wissen können. Wir haben Politik, Demokratie, Menschenrechte, damit wir alle unseren Platz im Zusammenleben finden und frei sein können. Es gehört zur Achtung dieser Einrichtungen und der Menschen, die in ihnen tätig sind, dass wir alle darauf achten, dass sie ihren Zweck erfüllen können. Wo Einstellungen, Strukturen oder Gleichgültigkeit dies verhindern, müssen sie geändert werden. Nur so kann sich unsere Gesellschaft zu einem Ort entwickeln, in dem wir alle gut leben können. Deshalb sind die Konsequenzen letztlich nicht nur auf einzelne Akteure beschränkt, sondern werden unser aller Leben betreffen.

Hanau steht für die Erkenntnis, dass Rassismus tödlich ist. Hanau steht für die Erkenntnis, dass Rassismus uns alle bedroht, weil menschenfeindliche Gewalt in unserem Alltag lauert. Hanau steht für die Erkenntnis, dass wir uns auf den Weg in eine Zukunft machen müssen, in der alle frei und ohne Angst zusammenleben können. Hanau steht für die Einsicht, dass es bei Menschenrechten und Frieden auf uns alle ankommt. Gegen den Virus des Rassismus helfen keine Masken, sondern Solidarität und Lernbereitschaft. Das können wir.

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