Vom Überschreiten. Ein Zwischenruf

von Dr. Martin Fricke

Vielleicht lesen Sie auch gern die Kolumnen auf der zweiten Seite der Rheinischen Post. Journalisten, Wissenschaftlerinnen, Ökonomen und samstags Geistliche verschiedener Religionen schreiben dort zu Fragen der Zeit. Ich mag ihre Texte, wenn sie sagen, was ich denke – und mehr noch, wenn nicht. Wie vor ungefähr 14 Tagen: Da schrieb der Wirtschaftsprofessor Justus Haucap über eine gerechtere Finanzierung von ARD und ZDF. Warum, fragte er sinngemäß, müssen eigentlich auch die Rundfunkgebühren zahlen, die, statt heute oder die Sportschau zu gucken, lieber Serien bei NETFLIX streamen? Ich zahle meinem Nachbarn, der gern Filme auf großer Leinwand sieht, doch auch nicht seine Kinokarten…

Klingt einleuchtend, denke ich – aber auch irgendwie falsch! Müssen wir, wenn´s ums große Ganze geht, nicht unsere Partikularperspektiven und Einzelinteressen überschreiten? Müssen wir nicht unabhängig von dem, was wir gerade mögen, Institutionen unterstützen, gerade weil sie unabhängig von dem sind, was wir mögen? Weil nur so nämlich Räume entstehen, in denen auch andere mit dem, was sie mögen und ich vielleicht nicht, zur Geltung kommen? Weil ein bloßer Kessel bunter Einzelinteressen ein Meer voller Inseln wäre, auf denen jede/r sich selbst genügt, aber kein gemeinsames Land, in der alle, auch wenn sie noch so verschieden sind, zusammenleben?

Gewiss – man kann jederzeit darüber streiten, ob mit Steuergeld bezahlte Polizisten jedes Wochenende Fans rivalisierender Bundesligaclubs auseinanderhalten müssen; oder ob teure Opernplätze mit unser aller Geld subventioniert werden sollen, damit sie für eine vergleichsweise kleine Gruppe von Liebhabern erschwinglich sind. Aber ich halte es für notwendig, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk von uns allen getragen wird, auch wenn den einen Hintergrundanalysen langeweilen und die andere noch nie eine Doku nach Mitternacht gesehen hat und wir schlechte Nachrichten eigentlich gar nicht mehr hören wollen… Und ja, ich halte es übrigens ebenfalls für notwendig, dass die Stadtgesellschaft den Deutschen Evangelischen Kirchentag bezuschusst, wenn er nach Düsseldorf kommt; auch wenn die Mehrheit der Düsseldorferinnen und Düsseldorfer gar nicht evangelisch ist!

Eine einzelne religiöse Teilgruppe solle ihr Event gefälligst alleine bezahlen, sagen die Kritiker. (Erinnern Sie sich: Ich zahle ja auch nicht die Kinokarten meines Nachbarn…) Öffentliche Mittel müssten in die nachhaltige Lösung der wirklich wichtigen Probleme unserer Zeit investiert werden: Armutsbekämpfung, Sicherung der Energieversorgung, Umweltschutz… Ja, das alles und noch viel mehr ist von brennender Wichtigkeit! Aber brauchen wir als Gesellschaft nicht gerade im Angesicht aller Krisen Räume, in denen wir innehalten und klare Gedanken fassen, Foren, auf denen wir miteinander in´s Gespräch kommen und tatsächlich nachhaltige Ideen spinnen können? Genau diese Räume und Foren stellt die Evangelische Kirche mit dem Kirchentag der gesamten Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt, Christinnen und Nichtchristen zur Verfügung.

Nein, wir müssen nicht jedem seine Kinokarte bezahlen! Aber ab und zu über uns selbst hinausdenken, unsere Einzelinteressen überschreiten und für Dinge mit einstehen, an denen uns möglicherweise überhaupt nichts liegt – all´ das ist nicht zu viel verlangt. Damit wir gerade in schweren Zeiten zusammen und nicht bloß nebeneinander her leben. Wann, darüber sollten wir nicht aufhören zu reden und zu streiten (auch so bleiben wir zusammen). In Zeitungskolumnen, auf dem Kirchentag und im Alltag der Welt. Tun wir es!

Martin Fricke.

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