Wie reagierte die Evangelische Kirche?
Am 26. Oktober 1941, also vor gut 80 Jahren, begannen die ersten Deportationen von Düsseldorf. Was wusste man davon in der Evangelischen Kirche und wie reagierte man?
Ehrlich gesagt: Ich weiss darüber sehr wenig, und es ist auch nicht leicht, Quellen zu finden. Ich habe keine Archivrecherchen angestellt, aber in Büchern gesucht.
Sicher ist: „Die“ Evangelische Kirche gab es nicht. Es gab die von den „Deutschen Christen“ geführte Reichskirche, die letztlich auch die rheinische Kirchenprovinz steuerte und die Christentum und Nationalsozialismus zu vereinigen suchten. Dann gab es die Bekennende Kirche, die das deutschchristliche „Kirchenregiment“ nicht anerkannte, ein eigene Kirchenleitung gebildet hatte und mit dem Anspruch auftrat, die Deutsche Evangelische Kirche zu repräsentieren. Zwischen beiden Seiten existierte eine sog. Mitte, im Grunde mehrere und sich laufend wandelnde „Mitten“, die sich von den „Deutschen Christen“ abgrenzten, aber im Zweifel an die Konsistorien der Reichskirche hielten.
Die „Deutschen Christen“ wollten schon 1932 sog. „nicht-arische“ Christen aus der Kirche ausschließen was sich allerdings 1933 wegen internationaler Proteste als nicht realisierbar erwies. Die meisten Landeskirchen, darunter die zur Reichskirche gehörende Kirche der Altpreußischen Union, in der das Rheinland eine Kirchenprovinz bildete, führten 1933 einen „Arierpagraphen“ für Pfarrer und „Vikarinnen“ analog zu den staatlichen Beamtengesetzen ein, mussten die Anwendung wegen der Proteste bald aussetzen, was sie nicht hinderte, „nichtarische“ Pfarrer auf dienstrechtlichem Wege als angebliche Einzelfallregelung auszuschließen. Gegen die Einführung des „Arierparagraphen“ in der Kirche richtete sich (bescheiden genug) der Protest der innerkirchlichen Opposition, aus der die Bekennende Kirche erwuchs. Zu einem systematischen Protest gegen den staatlichen „Arierparagraphen“ oder die Nürnberger Gesetze konnte sich auch die Bekennende Kirche als Ganzes nicht durchringen. Auch hatte sie die „nichtarischen“ Christen stark im Blick, während das religiöse oder säkulare Judentum oft weniger geachtet oder geringgeschätzt wurde. Dies hing auch mit einer Abwertung der jüdischen Bibel zusammen, von christlicher Seite „Altes Testament“ genannt.
Insbesondere die Ökumene im Ausland erkannte recht früh, dass man Flüchtlinge aus Deutschland unterstützen müsse. Erst 1936 im dritten Anlauf gelang in London die Gründung eines „Internationalen Kirchliches Hilfskomitee“ (des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen). Zwar wurde dem Komitee untersagt, in Deutschland eigene Büros aufzumachen, doch besaß man „Korrespondenzadressen“, in Düsseldorf die von Hans Wedell, einem „nichtarischen“ Christen und Mitglied der Bekennenden Kirche, der 1933 an der Ausübung seines Berufes als Rechtsanwalt gehindert wurde und deshalb anfing, Evangelische Theologie zu studieren. 1938 floh Wedell mit seiner Familie in die USA. Sein Nachfolger in Düsseldorf wurde Pfarrer Gottfried Hötzel aus Heerdt-Oberkassel, der als „Vertrauensmann“ für das von der Gestapo tolerierte „Büro“ von Pfarrer Grüber in Berlin die Düsseldorfer Auswanderungsberatung koordinierte und organisierte. Nach der Reichskristallnacht hielt Hötzel (zunächst ohne Nachteile für ihn selbst) eine kritische Predigt; nach einer weiteren im April 1939 als „judenfreundlich“ eingestuften wurde er denunziert durch eine mit einem Oberkonsistorialrat verheirateten Gottesdiensteilnehmerin. Der Denunziation zufolge sagte er (sicherlich von Joh. 8,44 ausgehend) sinngemäß: „Nicht die Juden sind die Kinder des Satans, sondern diejenigen, die sie verfolgen“. Deswegen wurde Hötzel für einige Monate verhaftet, erhielt Reichsredeverbot und Aufenthaltsverbot für das Rheinland und Westfalen.
Hötzels Nachfolger wurde Hans Balke, Pfarrer am Diakonissenmutterhaus in Düsseldorf-Kaiserswerth. Über Balke weiss ich nicht viel, außer dass er 1935 eine Schrift „Das Alte Testament heute“ verfasst hatte, die verboten wurde und ich bisher nicht zu Gesicht bekommen konnte. Hötzels Arbeit als „Vertrauensmann“ des Büro Grüber wurde hinfällig, als Anfang 1941 das “Büro Grüber“ in Berlin geschlossen wurde, Grüber und sein Mitarbeiter Werner Sylten ins KZ überführt (Grüber überlebte, Sylten – als ‚Nicht-Arier‘ – wurde ermordet). Die meisten „Vertrauensleute“ beendeten danach ihre Arbeit, einige arbeiteten aber weiter, darunter Balke.
Am 1. September 1941 kam die Polizeiverordnung heraus, wonach „Juden“ (worunter das Regime auch die ‚nichtarischen‘ Christen zählte) den Judenstern tragen mussten. Am 23. September beauftragt der Bruderrat der Altpreußischen Union, eine Art illegaler Kirchenleitung der Bekennenden Kirche, den Berliner Pfarrer Jannasch, sich mit den Provinzialbruderräten über eine „Stellungnahme der Kirche“ zu beraten und möglichst die Katholiken hinzuziehen. Daraus scheint nichts geworden zu sein, jedenfalls ließ sich eine derartige Stellungnahme nicht ermitteln. (Vielleicht wurde Jannasch davon abgeschreckt, dass bei der Breslauer Vertrauensfrau Katharina Staritz am 25. September eine Hausdurchsuchung vorgenommen wurde, weil von ihr ein Schreiben verbreitet worden war, wie man für die Integration der christlichen „Sternenträger“ in den Gottesdienst sorgen sollte, sie ggf. am Anfang von zu Hause abholen und begleiten und sich Gedanken darüber machen, wo sie zu sitzen hätten. „Auf keinen Fall auf eine Armesünderbank“. Jannasch selbst wurde aus anderem Grund im Januar 1942 verhaftet). Jedenfalls sollte Jannasch laut Beschluss vom 23. September außerdem die Provinzialbruderräte bitten, „sich in dieser Zeit seelsorgerlich der Nichtarier besonders anzunehmen“. Hat Balke diese Aufforderung erreicht?
Am 24. Oktober erging ein Runderlass, der „deutschblütigen“ Bürgern eine „Schutzhaft“ von drei Monaten androhte, wenn sie in der Öffentlichkeit „freundschaftliche Beziehungen“ zu „Juden“ erkennen ließen. Dennoch notierte Balke Ende Oktober in seinem Tagebuch:
„Mein Dienst an den getauften Nichtariern wird sehr ernst und schwer durch die Verpflichtung der Juden, einen gelben Stern zu tragen. […] Ende Oktober werden die Juden in größeren Gruppen nach dem Osten transportiert, zuerst nach Litzmannstadt, dann der 2. Transport nach Minsk, auch die evangelischen Nichtarier sind darunter. Ihre Habe fällt dem Staat zu. Bei Dr. Lindemeyer haben wir […] eine ergreifende Abendmahlsfeier. Manche sind über dem Leid sehr gereift“.
Text nach: Röhm/Thierfelder, Juden-Christen-Deutsche III,1, S.130.
Bei Dr. Georg Lindemeyer und seiner Frau Frieda, geb. Lewinsky, handelte es sich um Christen jüdischer Abstammung, also um „Juden“ nach nationalsozialistischer Rassenlehre. Georg Lindemeyer war Rechtsanwalt und hatte 1933 seine Zulassung verloren. Die Familie lebte mit drei Kindern in Oberkassel, Salierstraße 4, wo heute Stolpersteine an sie erinnern und musste später ins „Judenhaus“, Yorckstraße ziehen. Als erstes war es ihrer erwachsenen ältesten Tochter gelungen, mit Visum und Arbeitserlaubnis nach England auszuwandern, daraufhin waren die beiden jüngeren Kinder mit einem Kindertransport nachgefolgt und hatten ein Internatsstipendium erhalten. Sie selbst hatten alles für die Auswanderung fertig, doch wurden ihre Pläne im September 1939 vom Kriegsausbruch durchkreuzt. Von Frieda Lindemeyer gibt es einen Abschiedsbrief an ihre Kinder direkt vor der Deportation. Darin heißt es:
„Morgen müssen wir unter grausamen Bedingungen unser altes Heim verlassen und werden in die Fremde getrieben. Unser Ziel soll Minsk sein. Nun müssen wir alles verlassen, was uns lieb war, und ohne einen Pfennig in die Fremde gehen. In unserem Alter wirklich keine Kleinigkeit. Nach schweren Kämpfen habe ich mich entschlossen, Vati nicht allein zu lassen, obgleich ich doch so gern schlafen gehen [=Suizid] würde. Wenn ich wüsste, dass mir kein Wiedersehen mit Euch beschieden ist. Ich will durchhalten und bete zu Gott, dass er mich erhalten und beschützen möge, und die Stunde doch kommen möge, dass wir uns wiedersehen! […] Jetzt ist die letzte Nacht vorüber. […] Nun geht’s hinaus. Auch da wollen wir sagen: Mit Gott! Betet für uns, wie unsere Gebete für Euch gen Himmel gehen“.
Quelle: Christoph Moß (Hg.), „… wir leben doch in Gedanken nur mit Euch…“. Briefe von Georg und Frieda Lindemeyer 1937 bis 1941. Dokumente der Verfolgung von Christen jüdischer Herkunft in Düsseldorf, S. 124
Es ist deutlich, dass weder Pfarrer Balke noch Ehepaar Lindemeyer wussten, was die Deportierten in Minsk erwartete. Von Gaskammern wussten sie nichts: Die befanden sich auch noch im Bau. Dennoch: Was Frieda Lindemeyer wusste oder vielleicht auch nur ahnte, reichte aus, um sehr ernsthaft über Suizid nachzudenken. Die Hoffnung, ihre Kinder noch einmal wiederzusehen, hatte sie weitgehend aufgegeben. Vielleicht wusste sie von Massenerschießungen im Osten, oder von den bald wieder aufgegebenen Plänen direkt nach Kriegsbeginn, ein „Judenreservat“ im Raum von Nisko, nicht weit von Lublin zu errichten (davon hatten einige wenige Rückkehrer berichtet).
Pfarrer Balke behandelte die Deportation der Christen jüdischer Abstammung in seinem Tagebuch als seelsorgerliches Problem, vergleichbar vielleicht mit der Abendmahlsfeier, die manche Gefängnispfarrer zu Tode Verurteilten vor der Hinrichtung reichten. Ich will darüber nicht spotten, denn zweifelsohne war es besser, die Menschen seelsorgerlich auf ihrem Weg in die Deportation zu begleiten, als das nicht zu tun. Balke tat sehr viel mehr als die meisten seiner Kolleg:innen und bewies auch Mut angesichts der vorausgegangenen Verhaftungen von Hötzel und Grüber. Dennoch war es unbeschreiblich wenig gegenüber dem, was nötig und wünschenswert gewesen wäre.
Überraschenderweise tauchen die Düsseldorfer Deportationen auch im Nachlass Dietrich Bonhoeffers auf. Dort sind zwei Berichte vom 18. und 20. Oktober 1941 überliefert, maschinenschriftlich und ohne Autor. Bonhoeffer hat sie nachweislich nicht selbst verfasst, denn er hütete mit schwerer Lungenentzündung das Bett, möglicherweise wurden sie von seinem Freund Friedrich-Justus Perels getippt, der kurz vor Kriegsende von Freisler noch zum Tode verurteilt und ermordet wurde. Da die beiden Berichte sich überlappen, möchte ich annehmen, dass sie von zwei verschiedenen Personen stammen. Im Wesentlichen handeln sie von den Deportationen aus Berlin, doch werden auch Deportationen aus anderen Orten genannt, nämlich aus Köln, Mönchengladbach, Rheydt, Elberfeld, Bonn, Wien und eben Düsseldorf. Das ist kaum vorstellbar ohne ein ganzes Netzwerk von Informantinnen und Informanten vermutlich aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche und des geschlossenen Büro Grüber, in dem man sich austauschte. In einem der Berichte heißt es, im Rheinland habe man den Menschen erlaubt, 50 Pfund Gepäck, 100 Mark und Verpflegung für acht Tage mitzunehmen. „Schwere Erkrankungen bei Herzkranken, Gallen-Leidenden usw., Selbstmordgefahr sind die verständliche Folge, auch andere wie sinnlose Flucht und dergleichen“.
Quelle: Bonhoeffer, Werke, Bd. 16, S. 212-216.
Faksimile eines Düsseldorf betreffenden Auszugs hier http://bonhoeffer.staatsbibliothek-berlin.de/bonhoeffer/html/seite_23.html?fbclid=IwAR0NxrctmTBIJYdnkhWTU0GPPumfABn-xxY_w7FC8tTBct-k8ZwcoXhwULo
Dietrich Bonhoeffer sorgte dafür, dass die Informationen an den sich noch im Aufbau befindlichen Weltkirchenrat in Genf zu dessen Generalsekretär Visser’t Hooft gelangten. In der Schweiz unterlag die Presse allerdings in allen Deutschland betreffenden Dinge einer Zensur. Schon am 22. 10.1941, als die erste Düsseldorfer Deportation noch angekündigt war, leitete Visser’t Hooft die Informationen anonymisiert in einem Brief an den anglikanischen Bischof von Chichester, George Bell, weiter: „In the last few days some 25 000 Jews have been deported to Poland“. Am 29.10. schrieb er an Max Huber, den Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes: Man rechne nach zuverlässigen Informationen mit 7000 Deportationen aus Berlin, 20 000 aus dem Rheinland und 3000 aus Prag, die zum Teil schon erfolgt seien, zum Teil noch ausstünden. Im Warschauer Ghetto herrsche eine Kindersterblichkeit von 26%, über „Litzmannstadt“ (Lodz) lägen keine neueren Nachrichten vor, doch müsse das dortige Ghetto längst überfüllt sein. Er bäte darum, Beobachter dorthin zu entsenden. Der Brief wurde nicht beantwortet, aber Huber soll mündlich erklärt haben, dazu sei das Rote Kreuz nicht bereit, weil es nur für Kriegsgefangene zuständig sei und diese Arbeit nicht gefährden wolle. Eine Durchschrift des Schreibens ging an Gerhard Riegner vom jüdische Weltkongress in Genf, der sie an seinen Kollegen Aryeh Tartakower nach New York schickte. Sicherlich auch aufgrund der Pressezensur in der Schweiz informierte Visser’t Hooft die Mitglieder des „Vorläufigen Ausschusses“ des Weltkirchenrates. In No. 3 der „Notes on the Situation of the Churches in Europe” vom November 1941 ist davon die Rede, dass bis jetzt 15 000 Deportationen aus Berlin nach Polen vollzogen seien und etwa 10 000 aus dem Rheinland. Das für William Paton in London bestimmte Exemplar wurde von britischen Kriegszensur abgefangen. Man verteilte einige Kopien an diverse andere Ministerium, doch scheint es dort keine weiteren Reaktionen hervorgerufen zu haben. Dennoch scheinen einige Exemplare auch ausgeliefert worden zu sein. Im Dezember 1941 sprach Bischof Bell v. Chichester die Deportationen das erste Mal im britischen Oberhaus an. International sind die Nachrichten über die Deportationen rasant schnell verbreitet worden, auch wenn sie dort sehr wenig bewirkten. Wie war das vor Ort? Hat Balke mit seinen Kolleg:innen darüber gesprochen? Was haben diese selbst gehört und beobachtet? Einerseits kann ich mir schwer vorstellen, dass man darüber in der – halben – Öffentlichkeit eines Pastoralkonventes gesprochen hätte (wo man mit der Möglichkeit von Spitzeln rechnen konnte). Andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass man darüber gar nicht gesprochen hätte. Meinem Eindruck nach lief in der Bekennenden Kirche vieles informell ab. Viele Nachrichten verbreiteten sich sehr schnell von Mund zu Mund und sind schriftlich meist nur indirekt greifbar, nach Verhaftungen etwa. Insofern gehe ich davon aus, dass dies bei den Deportationen so ähnlich war. Im einzelnen nachweisen kann ich das aber nicht. Weiss jemand mehr?
(Bilder: Dr. Uwe Gerrens)