Alle Jahre wieder… – eine Polemik

von Sören Asmus

Alle Jahre wieder gibt es einen Anlass, das Thema „Sterbehilfe“ und „assistierte Selbsttötung“ zu diskutieren. Die Frage über die Freiheit, das (eigene) Lebensende zu bestimmen, scheint eine der großen Herausforderungen für die aufgeklärte Autonomie: Wenn ich schon meinen Lebensanfang nicht bestimmen kann, dann wenigstens mein Lebensende. Dagegen steht ein Rest von überlieferter Vorstellung einer „Heiligkeit des Lebens“ oder der Unverfügbarkeit, mitunter noch verbunden mit dem Hinweis auf einen Gott, der das Selbsttöten verbietet. Dahinter steht der Drang der meisten Menschen, Leben zu wollen, instinktiv sich in Sicherheit zu bringen, wenn ihnen Gefahr droht usw.

In Zeiten, in denen ein Menschenleben billig geworden ist, wenn Hunderte im Mittelmeer ertrinken, in sogenannten Flüchtlings-„Lagern“ sterben, in ignorierten Bürgerkriegen und Invasionen ermordet werden und all dies von unseren Regierungen im Namen von „Sicherheit“ und „Wohlstand“ ignoriert wird, warum machen wir uns da Gedanken um Selbstmord?

Wir machen uns Gedanken um Selbstmord, weil er zum einen unseren Instinkten zu wieder ist (s.o.) und weil in vielen Fällen diejenigen, die zurückbleiben, zutiefst verletzt und erschüttert sind. Einen Menschen zu verlieren ist schmerzhaft, wieviel mehr, wenn dieser Verlust vermeidbar wäre. Ich habe das im eigenen Umfeld erlebt, es ist lähmend und hinterlässt tiefe seelische Wunden.

Und dennoch: Wer wäre ich, jemandem zu verbieten, sich das Leben zu nehmen? Wer das Leben unerträglich findet, von Traurigkeit und Verzweiflung gebeugt ist und keinen Sinn in der eigenen Existenz finden kann – wer wäre ich, dies klein zu reden? Ich kann versuchen, das Leben dieses Menschen erträglicher zu machen, ich kann versuchen die Traurigkeit und Verzweiflung mit auszuhalten, ich kann versuchen, einen Sinn zu finden, aber es ist nicht mein Leben. Ich kann meine Präsenz einsetzen, um dem Menschen beizustehen, aber ich kann nicht sein / ihr Leben leben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ich wohl solchen Menschen im Wege stehen möchte, wenn sie sich töten wollen, ich sie dabei nicht unterstützen kann, aber sie auch nicht verurteilen kann. Ihnen den Schmerz der Zurückgebliebenen anzulasten, hieße Schmerz gegen Schmerz aufrechnen zu wollen – ein unsinniges Unterfangen. Wer leben will, wird nie diejenigen verstehen, die nicht leben wollen.

Wer schon einmal Stunden am Telefon verbrachte, um einen anderen Menschen solange zum Reden zu bringen, dass wenigstens heute ihr / sein Leben weitergeht, weiß: Man kann nicht sinnvoll abstrakt über Selbstmord reden. Eigentlich kann man nur über das eigene Leben reden… Wer dennoch über das Thema reden will, dem mag ich dann diese zwei Fragen stellen:

  • Sind Sie bereit, jedem den Strick zu reichen, die Klinge zu führen, das Gift zu mischen, der sie darum fragt oder erheben Sie den Anspruch für sich, für andere über die Erträglichkeit ihres Leidens zu entscheiden? (Der Pflegefall darf, der Teenager nicht?)
  • Sind Sie in der Lage, die volle Verantwortung für eines anderen Menschen Leben zu tragen – mit allen Konsequenzen? (Der Wunsch, zu sterben, entbindet Sie nicht von der Verantwortung für Ihren Beitrag zum Tod eines anderen Menschen.)

Ich habe keine Antwort auf diese Fragen, ich habe Angst vor ihnen.

Aber geht mein Nachdenken über Selbstmord nicht an den Fragen vorbei, die gestellt werden, wenn es um assistierte Selbsttötung für unheilbar Kranke geht? Ich kenne diesen Einspruch und ich verweigere mich dem. Krebs und Depressionen sind beides tödliche und schmerzhafte Krankheiten, manchmal kann man sie zurückdrängen, manchmal nicht. Armut, Hunger, Unrecht machen das Leben und Sterben genauso menschen-un-würdig, wie Pflegebedürftigkeit, Abhängigkeit und Versagen der Körperfunktionen. Und schließlich: Niemand stirbt für sich allein, er und sie sind in Beziehungen und Zusammenhängen, die durch jeden Tod grundlegend verändert werden.

Ich wehre mich nicht gegen den Wunsch von Menschen, Leiden erspart zu bekommen! Ich wehre mich gegen den Gedanken privilegierten Sterbens. Solange ich den Depressiven zum Leben beistehe und versuche, ihr Leiden zu lindern, werde ich auch den Kranken zu Leben bestehen und versuchen, ihre Leiden zu lindern. Solange ich nicht den Strick reichen kann und will, solange kann ich auch nicht die Spritze reichen. Und ebenso wenig wie ich den einen Selbstmord verurteilen kann, werde ich den anderen auch nicht verurteilen.

Ich habe Angst vor diesen abstrakten Diskussionen über das Leben und Sterben anderer Menschen. Leiden und Sterben ist immer schrecklich. Angesichts dessen bin ich an Walter Benjamins „Angelus Novus“ erinnert:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. […] Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. […]“ – Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX

Diese Worte – wiewohl in ganz anderem Zusammenhang gemeint – beschreiben mein Gefühl der Hilflosigkeit im Angesicht von Leid und Tod. Wir können die Toten nicht wecken und die Zerschlagenen nicht zusammenfügen. Aber wir können den Lebenden beistehen und den Schmerz lindern. Darüber will ich nachdenken, mit dem konkreten Menschen, der mich fragt, zu helfen.

ARD Degeto GOTT VON FERDINAND VON SCHIRACH, degeto-presse.jpg

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