Arbeitsmigrant:innen vor 150 Jahren

Teil II: Die protestantischen „Ruhrmasuren“ und ihre muttersprachliche Religionsausübung

(Fortsetzung)

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Die in Ostpreußen beheimateten Masuren waren nicht nur protestantisch, mehrheitlich verstanden sie sich auch als Preußen. Dem Einwand, viele von ihnen sprächen gar kein deutsch, begegneten sie mit dem Hinweis, dass auch die „Prußen“ oder „Pruzzen“ einen im siebzehnten Jahrhundert ausgestorbenen Dialekt gesprochen hätten. Provozierend nannten sich manche „Staroprusaki“, Altpreußen oder „Urpreußen“. Die erste, nur wöchentlich erscheinende ruhrmasurische Zeitung, 1892 in Bochum polnischsprachig in Fraktur gesetzt, erschien unter dem zweisprachigen Titel: „Przyjaciel Ewangeliczny, Gazeta polska dla ludustaropruskiego w Westfalii i na Mazurach/ Der evangelische Freund: Polnische Zeitung für das altpreußische Volk in Westfalen und Masuren.“

Masuren hatte (ähnlich wie andere durch Pietismus und Erweckungsbewegung geprägte Landstriche) eine religiöse Doppelstruktur ausgebildet. Neben der ostpreußischen Landeskirche, in der meist deutsch gesprochen wurde, gab es landeskirchliche Gemeinschaften, Laienbewegungen, deren Prediger sehr viel öfter auch Masurisch oder Litauisch sprachen. 1885 gründete Christoph Kukat den Ostpreußischen Evangelischen Gebetsverein, der nach Außen hin vor allem dadurch auffiel, dass man im Knien betete (was im Rheinland und in Westfalen als katholisch galt), Alkohol, Zigaretten, Tanz und dergleichen als verwerfliche Laster ablehnte und einander mit dem heiligen Kuss grüßte. Je nach Größe traf man sich in Privathäusern oder erwarb eigene Gemeinschaftsräume bzw. -gebäude, in denen man sich zum gemeinsamen Gebet traf, vom Grundsatz her ergänzend zu den landeskirchlichen Sonntagsgottesdiensten, nicht gleichzeitig als Konkurrenz. Bei der Anwerbung in die rheinischen und westfälischen Industriegebiete brachte die Gemeinschaftsbewegung ihre Laienprediger als Arbeiter mit. Zunächst traf man sich auch hier in Privatwohnungen, später erwarb man auch eigene Gebetsräume oder -häuser.

Quelle: Masurisches Gebetshaus 1908, Erbaut durch den evangelisch-lutherischen Gebetsverein „’Gott mit uns’ GmbH Herne“, Foto: Gerd Biedermann,
Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Manches Mal hatte die Landeskirche bei den „Ruhrmasuren“ das Nachsehen. In einem Brief des Konsistoriums Westfalen an den Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin vom 9. April 1897 heißt es:

„Die Masuren sind der deutschen Predigt und Seelsorge wenig zugänglich, nicht bloß weil sie die deutsche Sprache und namentlich die religiöse Sprache nur sehr wenig verstehen, sondern noch viel mehr, weil sie aus ihrer Heimath an kultische Formen gewöhnt sind, z. B. an Knieen, respondierendes Singen, Kreuzschlagen.“ Mehr noch: „Ein Gebet im Stehen gilt ihnen überhaupt nicht als ein rechtes Beten, sie fordern stets das Knieen; Rauchen ist ihnen eine Sünde, den Buß- und Bettag achten sie nicht, weil er ein nur vom König eingesetzter Feiertag sei; dagegen halten sie streng darauf, daß sie Weihnachten, Ostern und Pfingsten auch einen 3. Festtag, entsprechend der Dreieinigkeit Gottes feiern […]. Sie sind entschiedene Lutheraner.“

Die masurischen Gebetsvereine protestierten gegen die „offenbare Unwahrheit“: Selbstverständlich achteten sie die von Gott eingesetzte Obrigkeit und hielten an Buß- und Bettagen auch eigene Gottesdienste ab.

1897 schätze ein landeskirchlicher Beobachter die Zahl der Protestant:innen masurischer Zunge in Westfalen auf etwa 120 000 oder 130 000. Zuvor war das Ruhrgebiet zu fast 100 Prozent katholisch gewesen, jetzt machten die Protestant:innen eine wahrnehmbare Minderheit aus. Erst jetzt richtete die westfälische Landeskirche ihre erste Pfarrstelle für die Masurenseelsorge ein, weitere, auch im Rheinland, folgten in den nächsten Jahren, doch nur sehr wenige. In Erle-Middelich (Gelsenkirchen) drohten die masurischen Gemeindeglieder, statistisch die Mehrheit der Gemeindeglieder, mit Kirchenaustritt, wenn sie keine masurischsprachigen Pfarrer bekämen. Tatsächlich hatten sie Erfolg. Doch musste der Pfarrer aus Essen-Katernberg abgezogen werden und fehlte dann dort. Manchmal scheiterten die fremdsprachigen Gottesdienste daran, dass der Landeskirche der gute Wille fehlte, manchmal daran, dass sie selbst in Ostpreußen keine Pfarrer fanden, die masurisch oder polnisch sprachen. Das lag auch an der Soziologie: Wer in Ostpreußen masurisch oder litauisch zur Muttersprache hatte, lebte sehr oft auf dem Land, machte kein Abitur und studierte deshalb auch nicht Evangelische Theologie.

Den westfälischen und rheinischen Provinzialkonsistorien lag daran, die Masuren möglichst schnell in die bestehenden Gemeinden eingliedern. Die Masuren sollten in den deutschsprachigen Gottesdienst gehen, wurden aber dort nicht warm, solange sie wenig verstanden und auch sonst vieles anders war, als sie es gewohnt waren. Manch eine oder einer blieb weg. Deshalb war es manchen Konsistorien lieber, wenn Ruhrmasurische Gemeindemitlieder einen masurischsprachigen Gottesdienst besuchten als gar keinen. Insofern bemühten sie sich mit großer Verzögerung doch. Man fürchtete eine Abkehr der „Ruhrmasuren“ vom Protestantismus; es drohten andere Gefahren: „Sectenbildung“ (Heilsarmee, Baptisten), Besuch polnischsprachiger katholischer Gottesdienste, evangelisch-katholische „Mischehen“, Kirchenaustritte, „sittliche Verwahrlosung“, Alkoholismus und Sozialdemokratie. Exemplarisch für das Bemühen des Protestantismus aus den masurischen Bergarbeitern und ihren Familien national zuverlässige Deutsche zu machen, mag ein Beschluss des Presbyteriums Katernberg (Essen) von 1899 stehen:

„Eine Abänderung hinsichtlich der Masurenpastoration, betreffend die polnischen Gottesdienste etc. ist nicht erforderlich. Dagegen halten wir es für das Wichtigste, um die Masuren mehr zu nationalisieren und unseren Gemeinden wirklich einzugliedern, künftig keinen Hilfsgeistlichen oder Vikar aus dem Osten, sondern vielmehr einen Hilfsgeistlichen aus dem Rheinland, der des Polnischen mächtig ist, anzustellen. Wir stellen deshalb den Antrag: Kgl. Konsistorium zu Koblenz wolle einen rheinischen Hilfsgeistlichen in der polnischen Sprache ausbilden lassen nachdem dieselben durch einen zeitlichen Aufenthalt in den polnisch redenden Landestheilen der östlichen Provinzen sich in der polnischen Sprache soweit ausgebildet hätten, daß sie im Stande wären, in derselben Gottesdienst zu halten. Dadurch würde eher verhütet werden,

a) daß die Masuren eine besondere Gemeinde innerhalb der Gemeinde zu bilden suchen,
b) daß polnische Sitten und Gebräuche in den Gottesdiensten eingeführt werden.“

Dieses Programm gelang nur in Maßen und wurde an manchen Orten schon gegen Ende des Kaiserreiches, an anderen erst zu Beginn der Weimarer Republik wieder eingestellt. Danach boten die rheinische und die westfälische Provinzialkirche keine masurischsprachigen Gottesdienste mehr an.

Auch in Ostpreußen gab es Veränderungen. 1911 verdammte der Gründer des ostpreußischen Gebetsvereins Christoph Kukat Posauen- und Choralchöre als unzulässiges Zugeständnis an die Verlockungen der Welt. Diesen radikalen Schnitt mit der Vergangenheit konnten die wenigsten Vereinsmitglieder nachvollziehen. Die meisten traten aus und gründeten sich als Evangelisch-Lutherische Gebetsgemeinschaften neu. An Rhein und Ruhr blieb das Masurische als Gebetssprache bestehen, und nahm nur kontinuierlich ab, dem Sprachvermögen ihrer Mitglieder folgend. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Masurische noch einmal einen Schub durch ostpreußische Heimatvertriebene. In einigen Gebetsgemeinschaften Gelsenkirchens wurde noch bis in die siebziger Jahre gelegentlich masurisch gepredigt, vermutlich eine der letzten Sprachbastionen überhaupt. Heute ist das vorbei. Dennoch stehen 35 deutschsprachige evangelische-lutherische Gebetsgemeinschaften im Rheinland und in Westfalen in dieser Tradition, eine davon in Oberbilk (Heppenheimer Weg 2). Den Gottesdienst hält man dort immer noch sonntags um 15 Uhr ab, um den landeskirchlichen Gottesdiensten keine Konkurrenz zu machen.

Resümee: Die Parallelen zwischen den „Ruhrpolen“ bzw. „Ruhrmasuren“ zwischen 1870 und 1914 und den „Ruhrtürken“ bzw. „TiP“ („Türken im Pott“) zwischen 1960 und 1980 sind derart offensichtlich, dass sie fast selbsterklärend sind. Heute werden Konflikte sehr oft auf die muslimische Religionszugehörigkeit späterer Zuwander:innen geschoben. Doch traten sehr ähnliche Konflikte bei den „Ruhrpolen“ und „Ruhrmasuren“ auch schon auf, obwohl diese keine Muslim:innen waren. Damals reichte es aus, wenn die Form katholischer oder protestantischer Religionsausübung durch die Migrant:innen nicht dieselbe war wie im Rheinland oder Westfalen: „Polnische Sitten und Gebräuche“ gehörten nicht in eine deutsche Kirche, auch dann nicht, wenn sie genau genommen nur ostpreußisch waren. Dabei handelte es weder um einen Religions-, noch um einen Konfessionskonflikt, sondern um einen Streit um nationale Identität und Sprache: Im Zug der Germanisierungspolitik wollte die Reichsregierung die mit der polnischen oder masurischen Sprache verbundene „undeutsche“ Kultur nicht tolerieren oder allenfalls noch für eine möglichst kurze Übergangszeit.

Das Scheitern dieses illiberalen Programms spricht nicht dafür, dass man hier noch einmal anknüpfen sollte. Fremdsprachige Predigten sind in vielen Düsseldorfer Kirchengemeinden üblich. Düsseldorf ist nicht daran zugrunde gegangen, dass in der anglikanischen Gemeinde seit 1897 (unterbrochen vom Zweiten Weltkrieg) englisch gepredigt wird. Auch an die polnischsprachigen Messen – mit Unterbrechungen seit eineinhalb Jahrhunderten – dürfte man sich gewöhnt haben. Düsseldorf wird auch in Zukunft nicht daran zugrunde gehen, dass die Düsseldorfer Moscheevereine auch weiterhin nach den Regeln deutschen Vereinsrechtes selbst entscheiden, in welcher Sprache in ihrer Moschee gepredigt werden soll. Deshalb zuletzt hier eine Liste mit den im Jahr 2021 in Düsseldorfer christlichen Gottesdiensten genutzten Fremdsprachen:

Altgeorgisch, altgriechisch, arabisch, bulgarisch, brasilianisch, englisch, eritreisch, farsi, filippino, finnisch, französisch, indonesisch, italienisch, japanisch, kirchenslawisch, koptisch, koreanisch, kroatisch, kurdisch, Latein, Lingala, lettisch, neugeorgisch, neugriechisch, Mina, niederländisch, norwegisch, polnisch, portugiesisch, rumänisch, russisch, serbisch, slowenisch, spanisch, syro-malabarisch, Twi, ukrainisch, ungarisch, vietnamnesisch. Dass diese Sprachen in Düsseldorfer Kirchen gesprochen werden, hat nichts mit dem Islam, aber viel mit der Migration in der modernen Welt zu tun. In Paris, London, Istanbul, Neu Delhi, Kapstadt, Mexiko, Singapur und 138 anderen EKD-Auslandsgemeinden werden evangelische Gottesdienste in deutscher Sprache gehalten. Auch das hat nichts mit dem Islam zu tun.

Quelle: Christ Church im Garten des britischen Generalkonsulates an der Prinz Georg Straße, Pempelfort, vor dem Ersten Weltkrieg.
Bild: Wikimedia CC

Literatur:
Ausführlich behandelt werden die Kirchen in der historischen Dissertation von Sylvia Haida, Die Ruhrpolen – Nationale und konfessionelle Identität im Bewusstsein und im Alltag 1871-1918, Bonn 2012, online: file:///C:/Users/hp/AppData/Local/Temp/3073.pdf

Quellenband zur katholischen Kirche: Hans Jürgen Brandt (Hg.), Die Polen und die Kirche im Ruhrgebiet 1870-1919. Ausgewählte Dokumente zur pastoral und kirchlichen Integration im deutschen Kaiserreich, Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen Bd. 1, Münster 1987.

Darstellung der Evangelischen Kirche: Andreas Kossert, „Echte Söhne Preußens“. Die polnischsprachigen Masuren in Westfalen und ihre Frömmigkeit, Westfälische Zeitschrift 155 (2005), 331-350, online: https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/txt/wz-9036.pdf

Ein Kommentar

  1. Gerd-Frederic Lummerzheim

    Herzlichen Dank für diesen Teil der Aufarbeitung meiner Familiengeschichte 😉
    Dieses Viertel (Phillip, Merka, Wanda, Baal/Bahl) meiner Vorfahren ist hier gut nachvollziehbar beschrieben, eben auch der religiöse Hintergrund.

    Andere sind Vertriebene Salzburger (nach Marienwerder/Petrovice) und Rheinländer (Lommersum).

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