Eines der berühmtesten Gebäude der Christenheit – und des Islam.
„Ruhm und Ehre dem Allerhöchsten, der mich für würdig hielt, ein solches Werk zu vollenden. Salomo, ich habe Dich übertroffen“, soll Kaiser Justinian am Tag der Weihe nicht ganz unbescheiden ausgerufen haben. Die 532 bis 537 errichtete Kirche gilt bis heute als eines der wichtigsten erhaltenen Bauten der Spätantike. Nachdem sie 916 Jahre Kirche, 411 Jahre Moschee und 86 Jahre Museum war, wird sie jetzt erneut zur Moschee.
Die griechischen Kaiser identifizierten die alttestamentliche „Weisheit“, griechisch „Sophia“, z.B. in Sprüche Salomos Kap. 7, mit dem in Christus inkarnierten „Wort“, griechisch „Logos“, von Joh. 1. Deshalb wurde es möglich, in Konstantinopel der „Hagia Sophia“, deutsch der „Heiligen Weisheit“, eine Kirche zu widmen. Architektonisch wurde sie so geplant, dass der Kaiser, nach heutigen Vorstellungen ein „Laie“, in die Liturgie einbezogen werden konnte: Er erhielt hinten im Westen eine eigene Tür, die nur für ihn geöffnet wurde, und wurde ausgenommen vom orthodoxen Verbot, den Altarraum zu betreten. Er durchschritt die Altarschranke an einem Vorhang, aus dem später die mittlere Tür aller Ikonostasen wurde und die seither die „königliche Tür“ heißt. Als Konzelebrant nahm er priesterlichen Funktionen wahr, die sich aus seinen vorchristlichen Herrschaftstiteln „Kyrios“ (Herr) und „pontifex maximus“ (oberster Brückenbauer) ergaben. Zu Beginn des Gottesdienstes legte er die Krone in einer feierlichen Zeremonie vor dem Altar ab, am Ende setzte er sie ebenso feierlich wieder auf. Beim Friedensgruß trat er auf eine auch heute noch gut erkennbare rubinrote Porphyrplatte und vergab als „Stellvertreter Gottes“ die Sünden.
Das Volk begegnete der Erscheinung des Kaisers in seinem Herrscherglanz mit „Proskynese“, einem Kniefall, bei dem manche sich auch flach auf den Boden legten. Direkt über der Vorhalle befindet sich, um ein Vielfaches größer als heutige Choremporen, eine Tribüne, die nur dem Kaiser, der Kaiserin und dem Hofstaat vorbehalten war. Man erreicht sie bis heute über eine Rampe, praktisch für die Bauarbeiten, schonend für in Sänften emporgetragene Majestäten, die nicht über Treppen geschaukelt wurden. Frauen wurden in byzantinischen ebenso wie in osmanischen Zeiten auf die Nord- und Südgalerie verbannt, also oben links und rechts. Kaiser und Kaiserin hatten von hinten oben alles im Blick. Unten wurden Priester, Mönche und männliche Laien in ihrer Andacht nicht durch den Anblick von Frauen abgelenkt.
Wenn man in einer Kirche „Halfdan war hier“ als Wandkritzelei entdeckt, ärgert sich der Küster über die Arbeit beim Übertünchen. Als man eine solche Inschrift 1964 in der Hagia Sophia entdeckte, jubelten die norwegischen Sozialgeschichtler: Die Kritzelei eines Wikingers in Runenschrift aus dem 9. Jahrhundert! Auch Einkerbungen in der Wand dürfen nicht einfach als störende Unregelmäßigkeiten beseitigt werden, sondern werden bei Restaurierungen sorgfältig belassen: Früher hingen da goldene Kreuze, die die Kreuzritter 1244 bei der Plünderung Konstantinopels im vierten Kreuzzug mitnahmen.
Mit der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Türken wurde die Hagia Sophia in eine Moschee umgewandelt und nannte sich Ayasofya. Schon am Tag nach der Eroberung soll Sultan Mehmet II den ersten muslimischen Gottesdienst abgehalten haben. Es ging um demonstrative Inbesitznahme; die muslimischen Rechtsbestimmungen, wonach Pflichtgebete auf fremden Grund ohne Einwilligung des Besitzers ungültig seien, spielten keine Rolle, worauf der Artikel bei „eslam.de“ heute zu Recht hinweist.
Christlichen Legenden zufolge war die Stadt an einem der letzten Tage vor der Eroberung in dichten Nebel gehüllt, der sich erst am Abend lichtete. Die Kuppel zeigte sich von rotem Licht umhüllt, das über dem Kreuz entschwand: Der Heilige Geist zog aus. Muslimischen Legenden berichten davon, dass die Ayasofya auf dem Platz stehe, den Salomon eigentlich für seinen Tempel vorgesehen hatte; die Kuppel hätte nie gehalten, wenn der christliche Kaiser nicht vom Propheten Mohammed gesegneten Sand aus Mekka eingebaut hätte.
Im Zuge der Umwandlung der Kirche in eine Moschee wurden die Altarschranken, der Altar und die christliche Kanzel herausgerissen, Mosaike und Wandgemälde übergetüncht. Die christliche Apsis, als Zeichen der Auferstehung Christi nach Osten zur aufgehenden Sonne hin ausgerichtet, lag für die Gebetsrichtung der Muslime nach Mekka hin etwas zu weit links. Deshalb erbaute man etwas rechts der Mitte in die christliche Apsis eine muslimische Gebetsnische (Mihrab) hinein, auf die man die Gebetsteppiche leicht angeschrägt ausrichtete. Neu eingebaut wurden rechts die muslimische Kanzel und die Plattform, auf der der Muezzin zum Gebet rief. Direkt davor ist bis heute ein älterer in türkisfarbenem Marmor gehaltener Kreis im Fußboden zu bewundern, der Nabel der Welt („Omphalion“), auf dem die byzantinischen Kaiser gekrönt wurden. Die osmanischen Sultane erhielten Anfang des achtzehnten Jahrhunderts eine Loge vorne links, nur leicht erhöht, ähnlich wie Herrscherlogen in westeuropäischen Kirchen mittels filigran geschnitzten Holzes so konstruiert, dass man hinaus-, aber nicht hineinsehen kann. Falls der Sultan bei der Predigt nicht aufmerksam lauschte, konnte das Volk darüber nicht urteilen. Und die Security war dankbar, dass der Sultan sich nicht in die Reihe der Gläubigen einreihte. Ebenso wie zuvor die Kaiser lebten die Sultane gefährlich.
Als die Türkei nach dem ersten Weltkrieg zur Republik wurde, ließ Staatsgründer Atatürk per Kabinettsbeschluss die Ayasofya in ein Museum umwandeln. Man beließ die muslimischen Einbauten (christliche waren ohnehin nicht mehr vorhanden), entfernte die muslimischen Wandübermalungen und legte darunter Mosaike und Wandmalereien aus dem 9. Jahrhundert frei. Zuletzt hängte man große arabisch beschrifte Rundschilder aus dem 19. Jahrhundert wieder auf, Allahu Akbar neben Christos Pantokrator, hie arabische, dort griechische Buchstaben. So wurde das kunsthistorisch Wertvollste verschiedener Jahrhunderte „rekonstruiert“, was zu keiner Zeit je zusammen zu bewundern war. Gleichzeitig untersagte man Anhängern sämtlicher Religionen im neuen Museum das Beten. Kurz nach Beendigung des Krieges, der Ermordung von mehr als einer Millionen Armenier und der Vertreibung mehrerer Millionen Griechen inszenierte Mustafa Kemal sich damit als säkularer Herrscher, der über den Parteien schwebte und keine Seite bevorzugte, als „Atatürk“, deutsch: als Vater aller Türken.
Für mich ist die Hagia Sophia ein Symbol für die Verquickung von Religion und staatlicher Macht, über das ich gut protestantisch lästern kann. Dennoch war ich, als ich sie 2009 das erste Mal betrat, schwer beeindruckt. Eigentlich waren die Bedingungen ungünstig, weil das Innere für Restaurierungsarbeiten eingerüstet war. Dennoch hat es mich schier umgehauen: Die Raumwirkung ist überwältigend, die Mosaiken sind fantastisch, die Kuppel wirkt erhaben. Von „Kleinod“ kann man da schlecht sprechen, aber existiert das deutsche Wort „Großod“? Gewiss handelt es sich um einen Bau mit zu viel Imponiergehabe, aber er beeindruckte mich tief. Ich widerspreche mir, also bin ich.
Die architekturgeschichtliche Rolle für beide Religionen kann gar nicht überschätzt werden. Die frühen Kirchen waren Basiliken, längliche Pfeilerbauten, die an römische Markthallen erinnerten. Die Hagia Sophia hat den Zentralbau mit Kuppel als Baustil für die Ostkirchen populär gemacht. Heute sind die meisten orthodoxen Kirchen Zentralbauten. Auch die frühen Moscheen erinnerten oft an Basiliken (z.B. Damaskus, Kairo). Die Ayasofya hat dazu beigetragen, dass der Zentralbau mit Kuppel sich auch im osmanische Moscheebau weitgehend durchsetzte. Beim Umbau der Hagia Sophia zur Ayasofya hat man das Äußere belassen, nur das Kreuz auf der Kuppel durch einen Halbmond ersetzt und an der Seite die Minarette ergänzt. Das ging auch umgekehrt: Die Provinzmoschee von Pascha Gazi (heute Ungarn) imitierte in kleineren Ausmaßen die Ayasofya. Nach der Eroberung Ungarns durch die Habsburger entfernte man die Minarette und ersetzte den Halbmond durch ein Kreuz; fertig war die Kirche von Pécs, die verkleinert an die Hagia Sophia erinnerte.
Auch wenn sich im Westen die Basilika als vorherrschende Kirchbauform durchsetzte, zitieren viele Großkirchen die Hagia Sophia, so der Petersdom in Rom (1503-1636), die St. Paul Cathedral in London (1666-1703), diese in Stein gewordene Unabhängigkeitserklärung der Anglikanischen Kirche, die Karlskirche in Wien (1713-39), die auch den Sieg der Habsburger über die Osmanen feierte, und der bombastische Berliner Dom (1894-1905), mit dem Kaiser Wilhelm II. als Oberhaupt der Evangelischen Kirche Preußens seinen Führungsanspruch über die nicht-preußischen Protestanten anmeldete.
Seit einigen Jahren wird das Gebetsverbot in der Hagia Sophia durchbrochen. Erstmalig wurde eine Koransure am 10. April 2015 durch einen Imam im Rahmen der Eröffnung einer Ausstellung rezitiert, „zufällig“ ein orthodoxer Karfreitag. Damals protestierte der russische Parlamentarier Sergej Gawrilow im Namen aller orthodoxen Kirchen. Das Mitglied der kommunistischen Partei Russlands scheint überraschend, sein orthodoxes Herz entdeckt zu haben, ein Schelm, wer dabei an die damaligen russisch-türkischen Beziehungen denkt, die sich unter dem Abschuss einer russischen Suchoi SU-23 durch die türkische Luftwaffe verschlechtert hatten. Mir scheint, bei russisch-orthodoxen Stellungnahmen zugunsten der griechisch-orthodoxen Christen in der Türkei spielen bis heute außenpolitische Interessen die wichtigste Rolle, besonders wenn der ehemalige KGB-Agent Wladimir Putin sich zum Beschützer aller Orthodoxen aufspielt, grotesk angesichts des Verhältnisses des KGB zur russisch-orthodoxen Kirche vor 1990. Der „Erzbischof des Neuen Roms Konstantinopel und Ökumenischer Patriarch“ in Istanbul und der „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“ sind einander nämlich spinnefeind, weil ersterer die Beschlüsse des Konzils von Konstantinopel (381) für sich beansprucht, wonach dem Patriarchen von Konstantinopels das Primat zukomme, was dem Patriarchen von Rom, lateinisch „Papa“, deutsch „Papst“ allerdings schon damals nicht recht war. Heute bestreitet auch der Patriarch von Moskau dieses Primat, besonders seit der Eroberung Konstantinopels und der Selbsterhebung Moskaus zum „Drittens Rom“, ein Disput der neue Nahrung bekommen hat, seit beide sich streiten, wem die orthodoxen Kirchen in der Ukraine zugehören sollen.
In Istanbul betonte Bartholomaios I. 2016: „Wenn die Hagia Sophia zum Gebet eröffnet wird, dann sollte sie wieder zu einer Kirche umgewandelt werden“. Dennoch feierten hohe muslimische Geistliche dort mehrfach nachts im Ramadan Gottesdienst, live auf „Diyanet TV“ übertragen. Auch wenn das den Museumsbetrieb tagsüber nicht störte, empfand Bartholomaios I. das als respektlos. Ihm pflichtete das griechische Außenministerium bei, das Bartholomaios I. irgendwie als Griechen empfindet, auch wenn es sich um einen türkischen Staatsbürger handelt und die türkische Regierung bei dessen Wahl ein Veto-Recht besaß (und gegen den ersten Kandidaten auch eingesetzt hatte).
Das Terrain war also bereits vermint, als Erdoğan anlässlich der Kommunalwahl 2019 die Umwandlung des Museums in eine Moschee ankündigte. Ein unabhängiger (?) privater Verein klagte vor dem obersten Gerichtshof, dass die Besitzverhältnisse unklar seien und die Unterschrift Atatürks gefälscht. Am 2. Juli 2020 kündigte das Gericht nach einer nur 15-minütigen Anhörung an, dass er binnen 14 Tagen ein Urteil fällen werde. Am 10.7. erklärte es den Kabinettsbeschluss über die Säkularisierung von 1934 für nichtig, weil dieser den Stiftungszweck der von Sultan Mehmed II errichteten Stiftung verletzt habe. Zwar war diese Stiftung 1924 mit der Gründung der Republik aufgelöst worden, aber ihre Funktionen werden seither vom türkischen Religionsministerium Diyanet wahrgenommen, das weniger unabhängig agiert als seinerzeit die Stiftung.
Wie Erdoğan selbst vor einigen Jahren zu Recht sagte, fasst die blaue Moschee, nur wenige hundert Meter von der Hagia Sophia entfernt, etwa 10 000 Menschen und wird normalerweise nicht voll. Ein Bedarf besteht also nicht, zumal man in einem Nebenraum der Hagia Sophia schon immer beten kann. Selbstverständlich wäre eine Simultannutzung durch Muslime und Christen möglich, freitags die Muslime, sonntags die Christen. Im sechzehnten Jahrhundert hat man das zeitweise an manchen Orten leidlich erfolgreich hinbekommen. Es setzte allerdings den guten Willen aller Beteiligten voraus, der z.Zt. nicht vorhanden ist und auf absehbare Zeit nicht herzustellen sein wird.
Es geht nicht um einen Konflikt zwischen Christentum und Islam. Zwar möchte Erdoğan es als einen solchen inszenieren, viele Muslime und Christen glauben es auch, dennoch geht es vor allem um die Macht, um Erdoğans symbolische Nähe zu Kaisergalerie, Sultansloge und dem „Nabel der Welt“. Dementsprechend ist für den 15. Juli sein erstes persönliches Erscheinen zum Gebet angekündigt, kein christlicher, kein muslimischer Feiertag, sondern der Jahrestag der Niederschlagung des Militärputsches durch ihn. Er feiert sich selbst. Es fehlt nur noch die Kaiserkrone. Unpraktischerweise befindet sie sich in Ungarn, im Nationalmuseum.
Atatürks Gebetsverbot war ideologisch motiviert. Dennoch wäre meiner Überzeugung nach das Festhalten am status quo zur Zeit die beste aller realistischen Möglichkeiten gewesen. Es ist anders gekommen. Erdoğan will aus dem Gebet eine auch gegen das Christentum gerichtete religiöse Machtdemonstration machen. Dagegen kann man nur protestieren: Das ist kein Gebet, das ist Propaganda. Wie war das noch mit dem Foto von Trump mit der Bibel in der Hand vor der „Kirche der amerikanischen Präsidenten“ (als die noch alle der episkopalistischen Kirche angehörten)?
Links:
Die ZDF-Doku widmet sich der Baugeschichte aus Perspektive der beiden Architekten, die im Kaiser einen anspruchsvollen Kunden hatten. Gezeigt werden auch die architektonischen Probleme mit dem Gewicht der Kuppel, die zu heute noch sichtbaren deutlichen Verformungen der Rundbögen führte
https://www.youtube.com/watch?v=ZtW8UpzbCPw
Wer sich dafür interessiert, wie man auf dem Hintergrund griechischer Mathematik (ohne Quadratwurzel oder 2 {\displaystyle {\sqrt {2}}} π) ein derartiges Gebäude konstruierte (enthält auch ein kleines Video)
Etwas langatmig, aber realistisch, inklusive Schulklassen und Baugerüste, der virtuelle Rundgang
Wie hält man eine Bibel? Der amerikanische Kabarettist Malcolm Corden befragt einen echten Experten, seinen alten Vater, der als christlicher Buchhändler schon viele tausend Bibeln verkauft hat