Dietrich Bonhoeffer und der Rathenau-Mord

Dr. Uwe Gerrens
von Dr. Uwe Gerrens

Vor 100 Jahren, am 24. Juni 1922, wurde der deutsche Außenminister Walter Rathenau auf offener Straße ermordet. Die Mörder entstammten dem Umfeld der „Organisation Consul“, einem paramilitärischen Geheimbund nationalistischer und antisemitischer Prägung, in gewisser Hinsicht ein Vorläufer des Nationalsozialismus, auch wenn dort zunächst monarchistische Neigungen vorherrschten.

Staatsakt für Walter Rathenau im Reichstag, Quelle: Wikimedia CC

Dietrich Bonhoeffer war ein damals sechzehnjähriger Schüler, der noch nicht wusste, ob er Theologie studieren oder Pianist werden sollte. Seine älteste Schwester Ursula war 20 Jahre alt und befand sich in einer Ausbildung zur Sozialfürsorgerin, die zweitälteste, die 18jährige Christine, schickte sich an, Biologie zu studieren. Beide Schwestern und ihre angehenden Ehepartner erwähnten den Rathenau-Mord in Briefen, bemerkenswerterweise auf sehr ähnliche Weise.

Ursula Bonhoeffer fragte: 
„Was sagt ihr zu Rathenau? Das ist doch bodenlos, irgendeine blödsinnige antisemitische deutschnationale Hetze soll es gewesen sein. Hier ist alles ganz erschlagen.“ 

Ihr späterer Mann Rüdiger Schleicher, 27jährige juristische Hilfskraft im Reichsluftfahrtministerium, schrieb:
„Der niederträchtige Mord Rathenaus hat hier wieder eine etwas bewegte Atmosphäre geschaffen; Dienstag Nachmittag war überall frei, auch bei den Behörden. Die Beisetzung war feierlich, ich stand am Reichstag.“ 

Christine Bonhoeffer schrieb ihrem 23jährigen Verlobten Hans v. Dohnanyi:  
„Es war auch hier eine allgemeine furchtbare Bestürzung. Es ist merkwürdig, aber mir ist auch von all den Scheußlichkeiten dieser verfluchten Hakenkreuzleute noch keine so scheußlich vorgekommen. Nach allem, was man von Rathenau hörte, hatte man doch den Eindruck, dass er wirklich aus ganz reinen Motiven heraus, nicht aus persönlichem Ehrgeiz die Sache übernommen hatte.“ 

Hans v. Dohnanyi, Jura-Student mit Job im Archiv des Auswärtigen Amtes, schrieb ihr:
„Jetzt allmählich nach dem ersten Schreck und der ersten Wut, in der man nur das Gefühl hatte, dass etwas Furchtbares, Unfaßliches geschehen sei, kommt man zur Besinnung. Die Wirkung im Amt war ungeheuer. […] Mit einem Schlage wusste jeder, dass keiner so unersetzlich war wie Rathenau. Ich weiß auch nicht, wer die schwebenden Anleihe- und Reparationsfragen, wer die Verhandlungen mit dem Garantie-Komitee führen soll, wenn nicht er. Jedenfalls wird keiner sie zu einem für uns so günstigen Ergebnis bringen können, denn keiner besitzt im Ausland den persönlichen und sachlichen Kredit, den Rathenau besessen. Man fasst sich an den Kopf, wie das möglich ist, nachdem er eben erst in der russischen Vertragsfrage rechts und links Anklang gefunden hatte, nachdem er in der Kriegsschuldfrage energisch vorgehen sollte und seine Person zugestandenermaßen fast eine Revision des Friedensvertrages bildete. Ich glaube nicht, dass andere als antisemitische Motive in Betracht kommen. Manche gewissenlose ‘Patrioten’ gibt es da noch immer, die ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken können, dass ‘die Judensau endlich totgeschlagen ist’. […]

Alle hatten wohl mehr oder weniger die Empfindung, dass hier eine Tat vorliegt, die nicht gegen eine Person, sondern letzten Endes gegen eine Staatsform gerichtet ist. In jeder Revolution gibt es Mord und Totschlag. Aber solche Zeiten sind gekennzeichnet durch das Aufeinanderplatzen unvereinbarer und unvereinter Extreme. Wir schienen uns konsolidiert zu haben. Meinungsverschiedenheiten, heftige Parteipolemik, die gab es noch und sie muss es ja auch geben. Aber dennoch schienen die Voraussetzungen einer konstanten Politik (wenigstens mit Rücksicht auf das Ausland) gegeben. Und nun wiederholt sich nur noch in viel krasserer, unsinnigerer Form der Erzbergermord. Unter der Oberfläche schwelt etwas, kein Mensch weiß was, aber jeder fühlt es instinktiv.“ 

Von Klaus Bonhoeffer, Dietrich Bonhoeffers älterem Bruder, 23 Jahre alt und ebenfalls Jura-Student, gibt es keine schriftlich erhaltene Stellungnahme zum Rathenau-Mord. Doch nahm auch er als Jura-Student in Tübingen den wachsenden Antisemitismus und die Gefährdungen der jungen Republik wahr:
„Die Aufregung gerade unter den Studenten ist einfach ekelhaft. Man sieht in eben solchen Augenblicken sehr deutlich, wie viel charakterloses und unfeines Pack unter den äußerlich so ‘ehrenhaften’ Studenten ist. Dazu kommt dann noch eine fast polizeiwidrige Dummheit und Einfallslosigkeit in politischen Dingen. Geführt werden sie von den Professoren, von denen neulich einer unter tosendem Beifall erklärt hat, wir wollten jetzt einen Revanchekrieg gegen Frankreich machen. […]
Dann wird die ganze Stadt mit den widerlichsten Judenhetzblättern verschmiert. Zunächst riss ich, wo ich es sah, das Zeug herunter, aber jetzt, wo ich es sehe, lasse ich es absichtlich daran, weil es mir immer noch die beste Empfehlung für die Urheber und ihre Partei zu sein scheint.“

Ein anderes Mal schrieb Klaus Bonhoeffer:
„Das Widerlichste ist nun, dass die politische Entwicklung überall hin, auch in die Wissenschaft übertragen wird. [Fritz] Hereus [Prof. Nationalökonomie], der übrigens sich auch bald als ein solcher Typ entwickelt hat, erklärte mir heute mit erhabenem Grinsen, es wäre gut, dass man den Max Weber [Soziologe] los wäre, weil er Demokrat war. Hereus ist selber Nationalökonom und sollte wissen, was die Wissenschaft an Weber verloren hat, aber es ist einfach trostlos, wenn einer eine derartige Äußerung über die Lippen bringt; aber ich will davon aufhören, denn ich werde ganz gallig, wenn man die Zustände hier sieht.“

Den sechzehnjährigen Schüler Dietrich Bonhoeffer bewegte am Tag des Rathenau-Attentats etwas ganz anderes: Die jüngste Schwester Susanne war in der Schule beim Turnen von der Leiter gefallen, bewusstlos und laut Telefonanruf ihres „blöden Schulleiters“ mit Blutung am Rückrat: „Mamma, Onkel Hans und Klaus rannten hin“. Doch habe seine Schwester bloß eine Zerrung erlitten. Die Turnlehrerin sei hinterher mit einer Tafel Schokolade zu seiner Schwester nach Hause gekommen:
„Als der Schreck überwunden war, ging ich in die Schule nach der dritten Stunde´, und kaum war ich da, da hörte man im Hofe ein eigentümliches Knallen. Es war die Ermordung Rathenaus – kaum 300 Meter von uns entfernt. Ein Schweinevolk von Rechtsbolschewisten. Bloß weil er einem Gecken, einem blödsinnigen, nicht behagt, wird so einer umgebracht! Bei uns in Berlin ist eine wahnsinnige Aufregung und Wut. Im Reichstag prügeln sie sich.“ 

Bormann, Göring und diverse SS-Leute besichtigen die „Wolfsschanze“ nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler v. 20. Juli 1944, Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1972-025-10 / CC-BY-SA 3.0

Dietrich Bonhoeffer wurde 1945 im KZ Flossenbürg wegen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus ermordet, Hans v. Dohnanyi im KZ Sachsenhausen, Rüdiger Schleicher und Klaus Bonhoeffer vom Volksgerichtshof unter Freisler zum Tode verurteilt und ermordet. Natürlich kann man aus Briefen aus dem Jahr 1922 nicht automatisch schließen, dass sie alle sich vierzehn, fünfzehn oder sechzehn Jahre an Umsturzplänen gegen den Nationalsozialismus beteiligen würden. Schaut man aber mit dem späteren Wissen auf das Jahr 1922 zurück, sieht man doch eine gewisse Konsequenz.

Hans von Dohnanyi war während der ‚Märzverschwörung‘ von 1938 der erste aus dem Familienkreis, der Umsturzpläne fasste, indem er Kontakt zu General Hans Oster und Generaloberst Ludwig Beck aufnahm und gemeinsame Pläne schmiedete. Im Grunde zog Dohnanyi die anderen Familienglieder nach sich, wobei Klaus Bonhoeffer noch am ehesten über eigene Kontakte verfügte. Im Vergleich war Hans v. Dohnanyi wohl der am stärksten ausgeprägte politische Kopf – im Widerstand ebenso wie schon 1922 in seinem Brief zum Rathenau-Attentat. Doch auch die anderen traten für die Demokratie ein, identifizierten sich mit der Weimarer Republik und erkannten früh den Antisemitismus als Gefahr. Dietrich Bonhoeffer übernahm das politische Urteil seiner älteren Geschwister und angehenden Schwäger, und setzte erst in späteren Jahren eigene Akzente auch religiöser Art.

Heute erklären Teile der deutschen Öffentlichkeit, auch Teile der Geschichtsschreibung, den im Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 mündenden Widerstand gegen den Nationalsozialismus als letzte Sammlung konservativer Militärs und deklassierter Adliger, die ihre Fälle schwimmen sahen, enttäuscht durch den 1944 als verloren erkannten Krieg. Das ist nicht in allem falsch. Auch gab es Menschen unter den Verschwörern, die alles andere waren als Demokraten. Dennoch sind Pauschalurteile zu einseitig. Die Angehörigen des Bonhoeffer-Dohnanyi-Kreises gehören zu denen, die frühzeitig für die Demokratie eintraten. Es gibt genügend Belege dafür, dass sie auch nach einem geglückten Putsch nur für eine Übergangszeit eine „scharfe Militärdiktatur“ anstrebten, langfristig aber für einen allmählichen Übergang zur Demokratie eintraten. Ob dieser zweite Schritt hätte gelingen können, ist unsicher, doch der erste, Umsturz, gelang ja auch nicht. Insgesamt waren die am 20. Juli direkt oder indirekt Beteiligten ein bunter Haufen, weniger geeint durch gemeinsame politische Zielvorstellungen, als durch das, was sie nicht wollten. Die Verbrechen des Nationalsozialismus waren so ungeheuerlich, dass nahezu jede Veränderung besser gewesen wäre als ein Festhalten am Status quo.

Quelle: Uwe Gerrens, Rüdiger Schleicher – Leben zwischen Staatsdienst und Verschwörung, Gütersloh 2009, 77-80.

2 Kommentare

  1. Klaus Derndinger

    Lieber Uwe,

    Ein sehr interessanter Aufsatz! Glückwunsch! Ich habe ihn mit großem Interesse gelesen.

    Herzliche Grüße von Wentorf nach Wuppertal
    Klaus

  2. Danke für diese sehr gute „Zusammenfassung“.
    Dass sie alle so früh sich schon der Bedeutung des Mordes bewusst waren, war mir nicht bewusst.

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