Das neue Jahr hat begonnen. Selten haben wir so sehr einen echten Neuanfang herbeigesehnt. Aber insgeheim wissen wir, dass der Jahreswechsel nur ein bloßes Datum ist im Fluss der Zeit. Wie schön wäre es, das alte, zum Verzweifeln verrückte Jahr hinter uns zu lassen und ganz neu zu beginnen! Wie schön – aber wie fern scheint ein Neuanfang tatsächlich zu sein…
Ja, irgendwann werden die harten Lockdown-Maßnahmen Wirkung zeitigen, das Impfprogramm macht Hoffnung, und nach dem Winter wird ein neuer Frühling kommen. Aber immer beängstigender sind die Prognosen, dass die psychologischen, sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie uns auch dann lange noch beschweren werden, wenn die mörderische Kraft des Virus längst besiegt ist.
So eint uns einstweilen nur eins: das Bewusstsein, einer vagen Bedrohung ausgeliefert zu sein, die man nicht sieht. Dieses Bewusstsein beruht auf der uns gegenwärtig besonders präsenten Erfahrung, Objekt eines Schicksals zu sein, das uns widerfährt. Wir verdrängen sie oft, denn sie widerstrebt unserem aufgeklärten Tatendrang. Aber sie ist eine Grunderfahrung des Menschen. Sie kennt keine Grenzen und ist Jung und Alt, Reich und Arm, Religiösen und Nichtglaubenden gemeinsam.
Rabbi Joseph B. Soloveitchik, geboren am 27. Februar 1903 im damaligen russischen Kaiserreich, gestorben am 9. April 1993 in Boston (USA), war einer der bedeutendsten Denker des modernen orthodoxen Judentums. Er hat diese menschheitsverbindende Erfahrung „covenant of fate“, Bund des Schicksals genannt. Für Jüdinnen und Juden ist sie die Erfahrung Israels in Ägypten: die Erfahrung, dem gemeinsamen Leiden der Unterdrückung ausgeliefert zu sein.
Aber am Sinai hat Israel der Welt eine zweite Grunderfahrung geschenkt. Rabbi Soloveitchik nennt sie „covenant of destiny“, Bund der Bestimmung. Es ist die Exodus-Erfahrung: Die Erfahrung, auf den Ruf des Ewigen antworten zu können, der Israel aus der Unterdrückung geführt hat und uns das Ideal einer anderen Welt vor Augen stellt als die, die wir aktuell erleben. Indem er uns Gebote gibt, traut er uns zu, mehr als nur Objekte unseres Schicksals zu sein. Wir können es als seine Subjekte gestalten, ein gegenüber der Welt und uns selbst verantwortliches Leben führen. Etwa dadurch, dass wir Gemeinsinn und Barmherzigkeit in diese schicksalsgebeutelte und schicksalergebene Welt tragen.
Seid barmherzig, wie auch Euer Vater barmherzig ist, sagt der Jude Jesus. Dieser Satz aus seiner Feldrede (Lukas 6,36) ist die Jahreslosung 2021. Wenn wir uns an ihn halten, ist´s vielleicht tatsächlich doch ein Neuanfang. An jedem Tag, in den der Ewige uns ruft.
Seien Sie behütet!
Martin Fricke.
Ich verdanke die Idee zu diesem Beitrag und den Hinweis auf das Denken Rabbi Joseph B. Soloveitchiks dem Blog meines Kollegen Hanoch Ben Pazi, Professor am Department of Jewish Philosophy ander Bar-Ilan-University (Israel).