Manchmal beneide ich die katholische Kirche. Denn wenn überhaupt noch ein Christenmensch in den Feuilletons der Zeitungen und in den Foren der Kulturmedien unserer Zeit auftaucht – und zwar nicht als Buhmann oder Witzfigur –, dann ist es der Papst. Nun hat er es wieder geschafft! Und zwar mit einer eminent theologischen Frage.
„Gott legt keinen Hinterhalt“ verkündigte er vor einigen Monaten und sprach sich für eine Änderung der fünften Bitte des Vaterunsers aus. Und führe uns nicht in Versuchung, heißt es da. Doch wie kommen wir dazu, so Franziskus, dem Allmächtigen zu unterstellen, er wolle uns – womöglich mit Absicht – in Versuchung führen?! Außerdem passe eine Bitte, die eine solche Härte unterstellt, überhaupt nicht zum Gesamtduktus des Vaterunsers, werde der Ewige dort in großer Vertrautheit als Vater angeredet, der uns unser tägliches Brot geben und uns unsere Schuld vergeben möge. Sollte nach dieser innigen Zwiesprache mit Gott in der fünften Bitte auf einmal ein Drama beginnen?!
Nein, so der Heilige Vater, „Gott legt keinen Hinterhalt“. Und so schlug er vor, fortan statt und führe uns nicht in Versuchung „lass uns nicht in Versuchung geraten“ zu beten. Die italienische Bischofskonferenz hat nun kürzlich beschlossen, eben diese Formulierung in die gottesdienstlichen Liturgien aufzunehmen.
Die Intention ist klar: Der biblischen Formulierung soll ihre Härte genommen werden. Bei genauerem Nachdenken sträubt sich ja tatsächlich alles in uns, Gott als Versucher zu sehen. Das Böse, das Hinterhältige – ja, es ist in der Welt, das lässt sich nicht leugnen. Aber es ist sicher nicht auf der Seite unseres Vaters im Himmel, und es fällt schwer, sich vorzustellen, es komme von ihm. Die Formulierung „lass uns nicht in Versuchung geraten“ trennt den Ewigen vom Bösen. Gewiss, Böses geschieht, aber Gott verursacht es nicht, und wir dürfen ihn bitten, dass er uns vor ihm beschützt.
Das alles kann ich gut nachvollziehen. Und die Anregung, über den Inhalt des Vaterunsers nachzudenken, das wir in unseren Gottesdiensten mitunter allzu routiniert-formalhaft nachbeten, ist mir sehr willkommen. Dennoch habe ich gestutzt, als ich die Nachricht vom Beschluss der italienischen Bischofskonferenz las. Gewiss, es gibt oft mehrere Übersetzungsmöglichkeiten des biblischen Urtextes. Martin Luthers Übersetzung ist wahrhaftig nicht die einzige, und auch sie ist über die Jahrhunderte mehrfach revidiert worden. Aber ist es legitim, einen, vielleicht den zentralen Text des Neuen Testaments und das wichtigste Gebet der Christenheit so zu verändern?!
Schauen wir also in den Urtext. Der ist eindeutig: μὴ εἰσενέγκῃς, der Imperativ des Verbs εἰσφέρω steht dort. Das bedeutet „hineintragen, hineinbringen, hineinführen“. Führe uns nicht in Versuchung also, sogar eher schärfer noch: „bringe uns nicht in Versuchung“ heißt es im Vaterunser!
Sprachlich ist die Sache demnach ziemlich klar. Aber hat Papst Franziskus nicht theologisch recht? Sollten wir die Vorstellung nicht revidieren, dass Gott uns in Versuchung führt? „Was Christum treibet“, ist nach Martin Luther das Entscheidende in der Heiligen Schrift. Und so haben wir in der Bibel im Laufe der Geschichte schon einiges revidiert: Aussagen über den „heiligen Krieg“, über die Rolle der Frau und vieles mehr. Nur – hier geht es um das Gebet des Herrn selbst. Hier sollten wir noch einmal genauer hinschauen!
Führe uns nicht in Versuchung heißt es in Matthäus 6,13a. Nicht „in die Versuchung“. Das wäre die endzeitliche Versuchung gewesen, an der und in der sich die Geister scheiden. Zur Zeit Jesu erwarteten sie viele. Aber in seinen Worten legt er uns nahe, um die Bewahrung vor Versuchung schlechthin zu bitten. Also vor dem, was uns in unser aller Leben immer wieder anfällt, manchmal schleichend, manchmal ganz massiv: die leisen Verführungen des eigenen Vorteils, die willkommenen Gelegenheiten, es mit der Moral nicht ganz so genau zu nehmen, die vielen Möglichkeiten, sich von vielen schönen Dingen bestimmen zu lassen, nur nicht von Gott, auch das Leiden an zerbrochenen Lebensentwürfen und ausweglos scheinendem Elend. „Versuchung“ in diesem Sinne gibt es eindeutig, sie ist da und gehört zu unserem Leben wie alles Schöne, Reine und Gute auch. Sie wartet nicht erst am Ende der Zeit, und es hat keinen Sinn, sie zu leugnen.
Bleibt die Frage, was der Ewige mit ihr zu tun hat. Für Jesu jüdische Geschwister ist die Sache eigentlich klar: Der Allmächtige selbst ist es, der uns in Versuchung führt – damit wir sie bestehen und sich unser Glauben darin stärkt und beweist. Siehe Abraham, der seinen Glauben mit der Beinahe-Opferung seines Sohnes Isaak beweist (Genesis 22). Vor diesem Hintergrund liegt die Besonderheit darin, dass Jesus uns bitten lässt: und führe uns nicht in Versuchung! Wir müssen Gott nichts beweisen, und einander auch nicht. Passt das nicht wunderbar zu der Innigkeit der anderen Bitten des Vaterunsers?!
Ich glaube aber, wir sollten mit unseren jüdischen Geschwistern daran festhalten, dass der Ewige die alles bestimmende Wirklichkeit ist. Er ist der Herr auch über all´ das, was uns in unserem Leben als „Versuchung“ begegnet. Sein Geist ist es ja zum Beispiel, der Jesus nach Matthäus 4,1 in die Wüste und dem Teufel entgegenführt, damit der ihn versuche. Wenige Wochen, bevor er seine Jünger das Vaterunser lehrte…
Das Böse, auch das Böse – so verstehe ich die fünfte Bitte des Vaterunsers – ist und bleibt in Gottes Hand. Und ja – es kann Gottes Wille sein, uns durch Versuchungen in die Auseinandersetzung mit ihm zu führen. Warum? Damit wir unsere Freiheit leben. Hätte Gott Adam und Eva nicht in Versuchung geführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen, lebten wir heute zwar in paradiesischer Glückseligkeit, aber wir wüssten nichts von unserem Glück. Mangel an Glück ist der Preis unserer Freiheit. Möge sie eine Freiheit zu Glauben, zu Hoffnung, zu Liebe sein!
Gott ist kein Wunscherfüller, nur für die schönen Seiten unseres Lebens zuständig. Aber sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit (Matthäus 6,13b). Dieses Lob steht am Ende des Vaterunsers. Für mich drückt es eben jenen Glauben, jene Hoffnung aus, dass der Geist des Ewigen alle Ambivalenzen unseres Lebens – Freude und Glück und alles, was uns in die Verzweiflung treibt und uns an uns selbst scheitern lässt – umgreift. In dieser Perspektive kann ich auch annehmen, dass die Versuchungen meines Lebens letztlich von Gott selbst kommen. Und ihn – weil er nicht der Mechaniker meines Daseins ist, sondern eine lebendige Beziehung mit mir führen will – vertrauensvoll immer wieder auf´s Neue bitten: „Führe Du, ewiger und allmächtiger Gott, mich nicht in Versuchung!“
Ach ja – die katholische Kirche beneide ich manchmal immer noch für ihren Papst. Weil er uns immer wieder nachdenklich macht und uns anstößt, uns bewusst zu machen, was wir glauben und wie wir leben wollen. Aber ich freue mich auch, dass ich evangelisch bin. Weil wir so frei sind, eine große Vielfalt und Buntheit zuzulassen in dem, was wir glauben und wie wir leben wollen. Im Vertrauen darauf, dass der Ewige uns in allen Versuchungen – so sie denn sein sollen – die Kraft, den Mut und den Esprit schenkt, sie zu bestehen.
Seien Sie behütet!