Ferien mit Zukunft

von Dr. Martin Fricke

Ein Treffen Düsseldorfer Schulpfarrerinnen und Schulpfarrer im Sommer 2023. Wir sprechen darüber, wie wir unsere Schüler*innen in der Nach-Corona-Zeit wahrnehmen. Was wissenschaftliche Studien zeigen (Informationen können Sie unter dem Link https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110760361/html kostenlos herunterladen), wird durch unsere Eindrücke bestätigt: Kinder und Jugendliche, vor allem aus sozial prekären Milieus, leiden vermehrt unter depressiven Symptomen, können sich oft schwer konzentrieren, finden schwerer als früher Zugänge zu kooperativen Arbeitsformen und zweifeln zuweilen intensiv an dem Sinn von Lernprozessen. Viel zu wenig wird unseres Erachtens bisher beachtet, dass nach Corona ja nicht alles ist wie zuvor, dass sich vielmehr nahtlos die nächsten angstmachenden Krisen (Ukrainekrieg, Klimakatastrophe) angeschlossen bzw. in das Bewusstsein gedrängt haben. An den Gymnasien nehmen wir, grob gesagt, drei Reaktionsformen hierauf wahr: „Party machen bis zum bitteren Ende“ bei den einen, depressiver Rückzug und hilfloses Verstummen bei den anderen, intensives Engagement bei einigen wenigen. Wie gehen wir als Kirche damit um (oder sind wir zu sehr mit uns selbst beschäftigt)?

Während ich dies schreibe, erschrecke ich über mich selbst. So negativ liest sich das alles, so traurig, so perspektivlos! Sehen, hören, erleben wir als Christenmenschen nicht auch anderes?! Und ich erinnere mich an eine Veranstaltung mit dem Zukunftsforscher Matthias Horx, die ich – ebenfalls in diesem Somme – auf der phil.COLOGNE besuchte. Thema: „Die Weisheit des Wandels“.

Horx ging es natürlich, wie es seiner Profession entspricht, um die Zukunft. Und da geht das Schlamassel schon los: Denn Zukunft erleben die allermeisten Menschen in unseren Breitengraden kaum noch als etwas, auf das wir neugierig sind und das wir gestalten können. Vielmehr ist sie etwas, das uns passiert; schlimmer noch, das uns wie ein Zug entgegen rast – und wir stehen in einem Tunnel und können uns bestenfalls an die Wand drücken, in der Hoffnung, dass da noch genügend Platz ist.

Der Zug, so Horx, ist die manipulative Kraft der schlechten Nachrichten und düsteren Prognosen, die täglich auf uns einprasseln. „Ja und?!“, mögen Sie jetzt denken: Klimakatastrophe, Krieg, Kirchenbeben – das sind ja wohl Fakten, die für sich sprechen. Ja, das denke ich auch. Siehe meine eingangs geschilderten Erinnerungen an den Austausch über die Schüler*innen nach Corona. Horx aber ging es gar nicht darum, ob und in welchem Sinn die Fakten stimmen. Sein Punkt war, dass und wie sie unsere Wahrnehmung prägen! Wir erwarten das Negative, das Destruktive, das Deprimierende! Wir können gar nicht mehr anders!

Mittlerweile denken die meisten von uns, dass sich die 20 wichtigsten Indikatoren menschlichen Wohlergehens – Gesundheit, Frieden, soziale Standards etc. – in den letzten Jahrzehnten zum Negativen verändert haben. Das Gegenteil ist der Fall; an vielen Orten gewiss nicht, aber im weltweiten Maßstab. Was massiv angewachsen ist, ist die tägliche Nachrichtenflut. Und schlechte Nachrichten verkaufen sich bekanntlich am besten.

Noch einmal: Horx ging es nicht darum zu bestreiten, dass ganz viel auf der Welt, in der wir leben, im Argen liegt. Ihm ging es darum zu fragen, was wir überhaupt noch wahrnehmen. Ob wir zum Beispiel Krisen nur als bedrohlich Katastrophen sehen, oder als Phänomene, die uns etwas sagen; die unsere Kreativität herausfordern und unsere Phantasie, unseren Gestaltungswillen und unsere Kraft, neu zu denken. „Wie das?“, mögen Sie nun fragen.

Vier Punkte sind bei mir hängengeblieben:

  1. Sich nicht wie das Kaninchen vor der Schlange von Trends lähmen lassen! Zu jedem Trend gibt es einen Gegentrend – Retro ist wieder in, man kehrt zu Büchern zurück, Urlaub in der Heimat ist hip… –, und die Lösungen problematischer Entwicklungen liegen in der Regel auf einer ganz anderen Ebene, als jeder Trend und unsere Reaktionen darauf vermuten lassen. (Philosophisch Kundige erkennen hier Hegels Dialektik wieder.) Also: Mut zur Bescheidenheit! Nicht das große Rad drehen wollen, sondern sich auf kleine Stellschrauben konzentrieren!
  2. Jede Entwicklung, gerade die exponentiellen, haben einen krisenhaften Tipping Point. Dann gibt es Chaos, ein irres Gewusel von schlimmen, irritierenden und positiven, mutmachenden Aspekten zugleich. In diesem Sinne sind die Krisen unserer Zeit nicht der Weltuntergang, sondern – ja: in gewisser Weise der Normalfall. Und wieder: Die Kunst ist es, gegen negative Eruptionen anzugehen – natürlich! –, aber sich nicht panisch oder depressiv auf sie fixieren! Mut zur Gelassenheit – gehört der nicht eigentlich zur DNA des christlichen Glaubens?
  3. Mitgefühl für die Leidenden, Gequälten und Unterdrückten! Mitgefühl unterscheidet sich von Mitleid dadurch, dass es eine innere Distanz zum Leiden bewahrt. Jene Distanz, die man braucht, um überhaupt noch handlungsfähig zu sein. Besonnene Empathie also! Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. (2. Timotheus 1,7)
  4. Von den Lösungen her denken und handeln! Dadurch ist Matthias Horx zu Beginn der Pandemie, als niemand wusste, wie das einmal ausgehen würde, bekannt geworden. (Siehe Dies ist nicht nur eine Zeit der Krise. – Himmelsleiter (evdus.de).) Er hat das entsprechende Verfahren „Regnose“ genannt; im Gegensatz zur Prognose, die von den aktuellen und künftigen Problemen ausgehend nach Lösungen sucht – mit dem Effekt, dass, je größer die Probleme werden, die Lösungen um so stärker schrumpfen. Umgekehrt aber wird der Schuh draus, der zum Weg in die Zukunft passt: Zuerst kommen die Lösungsszenarien, Spinnereien, Visionen. Erst sie rücken die Probleme in ein Licht, das einen vernünftigen und realistischen Umgang mit ihnen möglich macht.

Seien wir ehrlich: Aus der Zukunft in unsere Gegenwart zu schauen, ist ein Erbe unserer jüdischen Geschwister, das wir Christenmenschen viel zu wenig pflegen. Und es ist eigentlich traurig, dass erst ein säkularer Zukunftsforscher uns daran erinnern muss. Wir leben aus der Zukunft; aus der Zukunft eines messianischen Friedensreiches. Der Prophet Jesaja hat es so beschrieben: Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt.
(Jesaja 11,6-9)

Vielleicht können wir in diesem Sommer ein wenig von diesem Aus-der-Zukunft-Leben neu einüben. Matthias Horx hatte Vorschläge für ein paar praktische Trainingseinheiten. Zum Beispiel: Sich einen Tag vornehmen, zu allem, was uns begegnet, nichts zu „meinen“! Nichts zu bewerten, einzuordnen, zu qualifizieren – und dadurch neu hinzusehen und hinzuhören, mental zu entschleunigen, sich überraschen zu lassen, vielleicht durch das eine oder andere unvermutete Friedenszeichen.

Möglicherweise ist ja nicht nur ein Tag, sondern eine ganze Woche drin. Oder drei. Das wünsche ich uns allen. Meinen Corona-gebeutelten Schüler*innen übrigens auch.

Schöne Ferien! Und seien Sie behütet!

Martin Fricke.

PS: Als Urlaubslektüre empfehle ich Matthias Horx, Die Hoffnung nach der Krise. Wohin die Welt jetzt geht oder wie Zukunft sich immer neu erfindet, Berlin 2021. Wenn Sie viel Zeit und davon noch nicht genug haben – spannend ist vom selben Autor auch Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, München 2011.

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