Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache. Wer diesen Satz der griechischen Antike verstehen möchte, kann das anhand des Werkes eines der großen Autoren Schwedens versuchen.
Zwar wusste Per Olov Enquist, der seine Karriere nach Abschluss des Studiums der Literaturwissenschaften als Journalist begann, viele Dinge. Aber letztlich war er kein Fuchs, sondern ein Igel. Die große Sache um die er wusste, um die er sein Leben lang rang, war das Verhältnis von Glaube und Vernunft beziehungsweise von Aufklärung und Aberglaube. Enquist war der Sohn eines allzu früh verstorbenen Sozialdemokraten und einer Dorfschullehrerin, die der Pfingstbewegung angehörte. Gerade die schmerzlich empfundene Abwesenheit des Vaters ließ die Sehnsucht nach einer Verbesserung der Gesellschaft immer wieder in Konflikt geraten mit der Enge religiöser Vorstellungen. Bedrückend schön schildert Enquist diese Grundstimmung in der dritten Person in seinem autobiografischen Roman „Ein anderes Leben“ (dt. 2009, S. 89f):
„Einen toten Vater zu haben, der ein Wohltäter war, war das Allerbeste, fast Geborgenheit. Dann wusste man, dass er dort zur Rechten Gottes saß und sich kümmerte, und man konnte mit dem Wohltäter beratschlagen, in schweren und bedrängten Lagen. Besonders, wenn Jesus und Gott keine Zeit hatten, und sie hatten ja selten Zeit, beinahe nie. Das war das Komische, aber sie durften dafür nicht kritisiert werden; dann verfinsterte sich das Gesicht der Mutter, und sie wurde schweigsam. Es half dann nicht, um Vergebung zu bitten. Es war beinahe eine Todsünde wie die, zu Gottes heiligem Abendmahl zu gehen, ohne den wahren Glauben zu haben. Aber dies war später, als das Kind im Begriff war zu zerbrechen.
Ganz klar war, dass man auf gar keine Art und Weise andeuten durfte, dass Gott oder Jesus keine Zeit hatten oder sich nicht kümmerten. Kein Spatz fällt zur Erde ohne dass! Und so weiter. Sie hat für alles Bibelbeweise. Das Kind hat jedoch das bestimmte Gefühl, dass Gott und Jesus sich dauernd in Zeitnot befinden. Man erwartete, dass sie Zeit haben würden, aber man musste warten, als wäre im Himmelreich ständig Heuernte.“
Dieses melancholische Ringen um die Wahrheiten von Pietismus und (!) Aufklärung prägt nahezu jeden der Romane Enquists. Es ist ein reales Ringen, oft genug mit historischen Stoffen und Gestalten.
Schon in Der fünfte Winter des Magnetiseurs (dt. 1966) schildert er die Gefahren der Leichtgläubigkeit. Franz Anton Mesmer (im Roman: Friedrich Meisner) ist einerseits ein erfolgreicher Hypnotiseur und Wunderheiler. Andererseits ist er ein geschäftstüchtiger Scharlatan. Was ihn groß werden lässt? Die Bereitschaft seiner Mitmenschen, sich nicht auf ihre Vernunft zu verlassen und sich stattdessen einer Autorität zu unterwerfen.
Auszug der Musikanten (dt. 1982) handelt von sozialen Konflikten in der nordschwedischen Provinz. um 1900. Wiederum kommt die Handlung nicht ohne Sündenangst und Gebete aus.
In Lewis Reise (dt. 2003) wird geschildert, wie die ehemals demokratische Pfingstbewegung nach und nach zu einem zentralistischen System mit Macht, Einfluss und Vermögen wird.
Der bekanntestes Roman Enquists in Deutschland ist sicherlich Der Besuch des Leibarztes (dt.2001). Erzählt wird die reale und dramatische Geschichte des Arztes, Politikers und Aufklärers Johann Friedrich Struensee. Der geisteskranke dänische König Christian VII. plant eine Reise durch Europa. Ein Berater bewegt den deutschen Arzt Struensee, den König auf dieser Reise von Mai 1768 bis Januar 1769 zu begleiten. Allmählich gewinnt Struensee das Vertrauen des Königs und kann Einfluss nehmen, indem er Dekrete sprachlich überarbeitet. Klugerweise gibt er seinem Amt keinen großspurigen Titel, sondern redet schlicht von einem „Besuch“. Schließlich ermöglicht sein wachsender Einfluss als Geheimer Kabinettsminister Gesetze ohne die Zustimmung des Königs zu erlassen. Struensee nutzt die Chance, Ideen der Aufklärung zu verwirklichen: Er führt eine Schulreform durch und schafft die Folter ab. Dass er sich damit nicht nur Freunde schafft, liegt auf der Hand. Endgültig überschreitet er die Linie, als er sich in die Gattin des Königs verliebt. Die Affäre bleibt nicht ohne Folgen. Im Juli 1771 wird ein Mädchen geboren. Struensee wird im April 1772 auf dem Schafott hingerichtet. Aufmüpfige Vernunft ist gefährlich. Hingebungsvolle Liebe gefährlicher. Sein Kampf für Aufklärung und Vernunft scheint zu Ende. Aber am Ende der Hinrichtungsszene lesen wir eine Frage: „War etwas zurückgeblieben, das nicht hatte abgeschlagen werden können?“
Das Ringen um Glaube und Vernunft hat Enquist nicht exklusiv. Auch sein Freund, der berühmteste Pfarrerssohn Skandinaviens, Ingmar Bergman, ist diesem Thema verfallen. In Ein anderes Leben findet sich die Schilderung einer herrlich absurden und darin typischen Szene. Enquist ist Gast bei einer Theaterpremiere seines Freundes Bergman. Ein wunderbarer Abend, bis ihn ein starker Harndrang an den Rand der Verzweiflung drängt. Da er weiß, wie empfindlich sein Freund auf Störungen reagiert, wagt er nicht, den Saal zu verlassen und kämpft stattdessen tapfer mit seiner Blase. „Hinterher erzählt er alles Bergman, der sich köstlich amüsiert und bestätigt, dass er nie verziehen haben würde, ihn aber kräftig lobt wegen seines Glaubenskampfes und seiner Durchhaltefähigkeit, die mit einem Sieg endete. Er fragt, ob Enquist zu Gott gebetet habe. Dieser verneint.
Sie unterhalten sich anschließend lange über das Glaubensproblem in Bergmans hochkirchlichem Milieu und in seiner eigenen herrnhutischen Erweckungsbewegung.“
Per Olov Enquist hatte keine Hemmungen, über alle Aspekte des Menschlichen Auskunft zu geben. Auch über seine Alkoholkrankheit. Vor allem war er bereit jeden, wirklich jeden Kampf anzunehmen. Die Kämpfe mit seinen Stoffen hat er durchweg gewonnen.
Ende April hat dieser große europäische Dichter unsere Erde für immer verlassen. Wer weiß: Vielleicht darf er jetzt irgendwo andernorts bei der Heuernte helfen.
Harald Steffes, Ev. Stadtakademie