Jesus Christus, der „wahre Jakob“, und die Himmelsleiter

Gastbeitrag von Matthias Morgenstern

Midraschtexte als Hilfe, die hebräische Bibel christologisch zu deuten (Teil II)

(Fortsetzung des Beitrages vom 1. Juni. Dort war in zwei Abschnitten ausgehend von Luthers großer Genesisauslegung die Frage aufgeworfen worden, ob der Ort, an dem Jakob die Himmelsleiter träumt, gegebenenfalls mit Jerusalem bzw. Golgatha zu identifizieren sei.)

3. Bethel und die Gefahr falschen Gottesdienstes

Dass geographische Erwägungen dem Midrasch aber nicht gänzlich fern liegen, zeigt eine weitere Identifizierung des Bethelortes, die in gewisser Hinsicht noch problematischer ist als die (im Midrasch ja nur vorausgesetzte, nicht vollzogene, frühjüdische) Gleichsetzung mit Jerusalem. Die Rabbinen bringen Bethel in Verbindung mit der Gottesoffenbarung am Berg Sinai! Dazu bedienen sie sich eines Kunstgriffs, der auf die zahlenmystische Gleichsetzung der beiden hebräisch geschriebenen Wörter „Leiter“ (סלם) – die „Himmelsleiter“ in V. 12 – und „Sinai“ (סיני) hinausläuft: Beide ergeben den Zahlenwert 130![1]

Der Jakobsort wird so mit der Offenbarungsstätte des Judentums verbunden; die Gottesbegegnung des Mannes, der kurz darauf den Israelnamen erhält, präfiguriert die Gabe des Gesetzes am Sinai.

Indem die Rabbinen die frühjüdische Tempelreligion zur rabbinischen Religion der Tora transformieren, behalten sie aber zugleich die Umstrittenheit ihrer Deutung mit im Blick.[2] Für sie bezeichnet Ort Bethel in der Tat einen Ort höchster Gefährdung! Deshalb stellt der Midrasch unmittelbar im Anschluss die biblische „Leiter“ (סלם) in einen Zusammenhang mit Dan 2,31: Dort heißt es, dass König Nebukadnezar ein goldenes Bild (צְלֵ֣ם) machen ließ. Dieses aramäische Wort übersetzen die Rabbinen etwas freihändig ins Hebräische, um den Ausdruck semel סמל zu erhalten, der nun wieder zahlenmystisch mit der „Leiter“ und damit zugleich mit dem „Sinai“ übereinstimmt.[3]

Die „Himmelsleiter“ als Allegorie des Sinaigesetzes – oder der Gefahr des Götzendienstes! Reflektiert wird hier die Tatsache, dass die Stätte der Tora-Offenbarung auch Ort des schlimmsten Abfalls der Israeliten war, wie das in Ex 32–34 geschilderte Geschehen zeigt. Biblisch-theologisch kann man auf die späteren Betheltraditionen verweisen, die ein als Götzendienst gebrandmarktes Heiligtum des abtrünnigen Nordreichskönigs Jerobeam bezeugen.[4] Wahrscheinlicher aber ist, dass die Rabbinen mit ihrer gewiss ungewöhnlichen exegetischen Operation darauf aufmerksam machen, dass auch in ihrer spätantiken Gegenwart die Gefahr einer konkurrierenden Gottesverehrung drohte, eben den christlichen Bilderdienst, den sie als Idolatrie wahrnehmen.[5]

Vergleichen wir die rabbinischen Deutungen mit Luthers Golgatha-Imagination! Alle Auslegungen, jüdische wie christliche, deuten den Bibeltext im Licht ihrer jeweiligen Perspektive und Tradition. Die Botschaft aus dem Alten Israel war auch für die Rabbinen nicht mehr umstandslos in ihre Gegenwart zu übertragen. Sie sprach nicht mehr direkt zu ihnen. Der Midrasch, so unser Eindruck, dreht die Schleife der Interpretation aber eine oder auch mehrere Runden weiter als der christliche Ausleger. Die Rabbinen gehen über die erste allegorische Umdeutung (Bethel=Jerusalem) hinaus. Sie entwickeln eine Typologie, die das biblische Geschehen auf die Situation der Juden im römischen Reich nach der Zerstörung des Tempels hin durchsichtig macht. Dabei kommt eine Hermeneutik zum Einsatz, die von einer im Grunde unbegrenzten semantischen Überdeterminiertheit des hebräischen Textes ausgeht: So wird es sinnvoll, dem Zahlenwert hebräischer Buchstaben einen theologischen Sinn abzugewinnen.

Diese und ähnliche Deutungen sind im rabbinischen Judentum nun keine unverbindliche Spielerei: Mit dem Talmud gehören sie zur „mündlichen Tora“ und teilen dessen Qualität als kanonischer Text. Vermittelt durch die mittelalterlichen Kommentare bei Raschi und seinen Nachfolgern sind solche Deutungen noch im gegenwärtigen jüdischen Tora-Lernen präsent. In dieser ihnen eigenen Dignität begegnen sie auch im jüdisch-christlichen Dialog. Überraschend ist dabei die Entdeckung, dass diese Midraschtexte für den Dialog besonders geeignet sind. Sie verdanken sich ja selbst historisch einem Dialog – jenem Dialog, den Rabbinen und Kirchenväter unter ganz anderen Bedingungen in der Spätantike führten. Wer diese (und andere) Midraschdeutungen theologisch ernst nimmt, wird nicht umhinkönnen, auch die christologische Hermeneutik, auf die die spätantiken Rabbinen reagierten, ernst zu nehmen. Dies gilt umso mehr, als die rabbinischen Texte sich nicht mit einer bloßen Negation begnügen, sondern auf die christliche Herausforderung produktiv reagieren. Die allegorische Deutung Esaus, der das Christentum repräsentiert, kulminiert in einem Midrasch zu Gen 33, 4 – jenem Vers, der von der Versöhnung der Zwillingsbrüder handelt, als Esau seinen Bruder umarmte und küsste. Eine rabbinische Stimme gesteht Esau hier zu, dass er in diesem Moment voller Erbarmen war und Israel „aus ganzem Herzen“ küsste.[6] Kann man schließen, dass auch die „edomitisch“-christliche Schriftauslegung aus ihrer Sicht nicht schlechthin verdammenswert war? Immerhin bot sie Anlass zur Weiterentwicklung der rabbinischen Theologie!

an der Vorzeichendecke, 1763 von Johann Baptist Enderle

4. Bethel als kosmologischer Ort – und Antwort auf „Golgatha“

Die Rabbinen geben ihrer Bethel-Auslegung noch eine weitere Wendung. Zu Gen 28, 17 (Jakob „fürchtete sich und sprach, wie furchtbar ist dieser Ort“) überliefern sie eine Serie von Deutungen, deren Sinn sich erst erschließt, wenn man sie als Antwort auf die Herausforderung durch die Kirchenväter versteht.

Wie das Golgatha-Geschehen – sozusagen „als Mitte der Zeit“ – nach dem Evangelium von kosmischen Zeichen (Erdbeben und Sonnenfinsternis) begleitet war, so hatte auch Jakobs Traum eine Zeiten und Räume übergreifende Relevanz. Gott ließ die Sonne an jenem Tag „vor der Zeit untergehen“, um eben an „jenem Ort“ mit Jakob=Israel sprechen zu können. Dieser Zeitverlust wurde vier Kapitel später (als während des Kampfes Jakobs am Jabbok „ihm die Sonne aufging“, Gen 32, 32) „zurückerstattet“ – die kosmologischen Abläufe werden hier auf das Engste mit dem Geheimnis der Geschichte Israels verbunden.[7] In spatialer Hinsicht nähert sich der Midrasch dem Phänomen mit Spekulationen dazu, wo die Füße der Leiter standen. In Beerscheva, von wo Jakob ausgezogen war (Gen 28,10)? Beugte sich die Leiter über das Jerusalemer Heiligtum? Nach Rabbi Juda im Namen des Rabbi Simon verhielt es sich anders: Die Leiter stand im Heiligtum, und die „Mitte ihrer Schrägung“ erreichte Bethel.[8]

Eine Midrasch–Antwort auf die häufig gestellte Frage, warum die Himmelsboten, die der Visionär sieht, erst aufsteigen und danach wieder hinabsteigen, schließt sich an diese nur kosmologisch zu verstehende Auslegung an. Demnach ist V. 12 so zu verstehen, dass Bethel als eine Art Grenzstation von Erez Israel gilt. Diejenigen Engel, die den Flüchtling im Inland begleitet hatten, so heißt es, stiegen empor. Diejenigen, die den Auftrag hatten, ihn im Ausland zu begleiten, stiegen herab.[9]

An diese „geographische“ Vorstellung – mit Blick auf die Landkarte leicht zu falsifizieren – schließt eine theologisch bedeutsame Berechnung an: die (erneut aus den hebräischen Buchstaben erhobene) Ermittlung des Abstands zwischen dem himmlischen und irdischen Heiligtum. Beide sind nur achtzehn Meilen voneinander entfernt, wie die Zahlenbedeutung der Worte „und dies“ (וְזֶ֖ה) in V. 17 zeigt: „Und dies (וְזֶ֖ה) ist das Tor des Himmels!“ In den Worten des Rabbi Schimon ben Jochai:

Das obere Heiligtum ist achtzehn Meilen höher als das untere. Was ist der Grund (für diese Annahme? Im Satz) „Und dies ist das Tor des Himmels“ (hat die Wendung) „und dies“ den Wert achtzehn.[10]

Wie aber gewinnen Leser Zugang zum Heiligtum und „Tor des Himmels“? Eine Antwort bietet eine Vorstellung, die – scheinbar im Widerspruch zum Motiv der „Grenzstation“ und dennoch komplementär – die Heilsgabe des ganzen Landes Israel in Bethel konzentriert findet. Wie bei den zuvor mitgeteilten Auslegungen ist auch hier der Aufwand, den die Rabbinen betreiben, schwer begreiflich, wenn man nicht eine für sie schwerwiegende Herausforderung voraussetzt.

Den abschließenden 3. Teil dieses Beitrages lesen Sie am kommenden Dienstag.

Der Autor Prof. Dr. Matthias Morgenstern lehrt Religionswissenschaft und Judaistik am Institutum Judaicum der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Am Ende des ersten Teiles dieses Beitrages wurde auf einige seiner wichtigsten Schriften zum Antijudaismus im Umfeld Luthers hingewiesen. Harald Steffes


[1] Genesis Rabba 68, 12 (Ed. Krupp, Bd. 2, 332). Die zahlenmystische Rechnung folgt dem Schema, dass jeder hebräische Buchstabe einen Zahlenwert erhält: א=1, ב=2,ג =3, ד=4, י=10, כ=20, ל=30, מ=40 etc. Zu möglichen früheren Identifikationen von Bethel mit dem Sinai (etwa in Jub 32,21–26) vgl. H.A. Rapp, Jakob in Bet-El. Gen 35,1–15 und die jüdische Literatur des 3. und 2. Jahrhunderts (Herders Biblische Studien 29), Freiburg-Basel-Wien 2001Rapp, Jakob, 72f.
[2] Ein früher Beleg für eine theologische Reflexion dieser Umstrittenheit ist das Jubiläenbuch (32,22), in dem es heißt, dass Jakob mit Bezug auf Bethel von Gott dazu aufgefordert wurde, nicht „diese Stätte“ zu bebauen und sie nicht zu einem „ewigen Heiligtum“ zu gestalten, da „dies nicht der Ort“ sei (vgl. Koenen, Bethel, 202). Zur Betheltradition im Jubiläenbuch vgl. Rapp, Jakob, 233–254 und J. C. Enders, Biblical Interpretation in the Book of Jubilees (Catholic Biblical Quarterly. Monograph Series 18), Washington 1987.
[3] Genesis Rabba 68, 13 (Ed. Krupp, Bd. 2, 333).
[4] Vgl. 1. Kön 12, 29; Am 7,10–17.
[5] Dass den Rabbinen dies vor Augen stand, beweist die Tatsache, der unser Midrasch an verschiedenen Stellen das griechische „eikon“ als Fremdwort im Hebräischen verwendet.
[6] Genesis Rabba 78, 9 (Ed. Krupp, Bd. 2, 382).
[7] Genesis Rabba 68, 10 (Ed. Krupp, Bd. 2, 330).
[8] Genesis Rabba 69,7 (Ed. Krupp, Bd. 2, 336).
[9] Genesis Rabba 68,12 (Ed. Krupp, Bd. 2, 333).
[10] Genesis Rabba 69,7 (Ed. Krupp, Bd. 2, 336).

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