Wie die neuere Jesusforschung immer deutlicher herausgearbeitet hat, gehörten zur Jesusbewegung nicht nur Männer, sondern auch zahllose Frauen. In vielen Fällen sind ihre Namen nicht überliefert. Eine Frau wird jedoch häufiger namentlich erwähnt, dazu noch in wichtigen Zusammenhängen: Maria aus Magdala. Sie scheint eine bedeutsame Gestalt der Jesusbewegung gewesen zu sein. Der Name gibt ihren Herkunftsort an: Magdala am See Gennesaret. Der Ort war mit seinen vielleicht 5000 Einwohnern für damalige Verhältnisse eine größere Stadt. Man lebte dort besonders vom Fischfang und der Fischverarbeitung. Vielleicht hat Maria in Magdala in diesem Zweig der damaligen Wirtschaft ihr Geld verdient. Sie scheint nicht verheiratet gewesen zu sein, da ihrem Namen kein männlicher Name wie z. B. der eines Ehemannes zugesetzt ist, wie das damals eigentlich üblich war.
Maria aus Magdala wird vor der Passionsgeschichte nur ein einziges Mal erwähnt und zwar im Lukasevangelium (8,2). Dort wird in einem zusammenfassenden Abschnitt erzählt, dass Jesus sie geheilt habe, indem er sie von sieben bösen Geistern befreit habe. Ob das historisch ist, ist schwierig zu beurteilen. Für diese Heilung gibt es nämlich keine weiteren Belege. Es könnte durchaus sein, dass der Evangelist Lukas hier bewusst, ohne auf eine verlässliche Quelle zurückzugreifen, eine „schwierige Vergangenheit“ der Maria aus Magdala eingefügt hat, weil er weibliche Nachfolgerinnen Jesu im Gegensatz zu den männlichen in die zweite Reihe stellen wollte. Er hätte dann das Image Marias bewusst zu ihrem Nachteil verzeichnet.
Die wichtigsten Belege finden sich in der Passionsgeschichte. Das älteste der vier Evangelien, das Markusevangelium, erzählt, dass die männlichen Anhänger Jesu angesichts seines fürchterlichen Endes geflohen seien. Einige Frauen hätten jedoch seine Kreuzigung aus einer gewissen Distanz mit verfolgt (Mk 15,40): „Und es waren auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter ihnen Maria Magdalena und Maria, die Mutter Jakobus des Kleinen und des Joses, und Salome, die ihm nachgefolgt waren, als er in Galiläa war, und ihm gedient hatten, und viele andere Frauen, die mit ihm hinauf nach Jerusalem gegangen waren.“ In der Aufzählung steht Maria aus Magdala ganz an der Spitze, woraus man schließen kann, dass sie die bedeutendste der erwähnten Frauen gewesen sein muss. Außerdem ist dem Satz zu entnehmen, dass sie zusammen mit den anderen schon in Galiläa zur Jesusbewegung dazugestoßen ist. Sie scheint also von Anfang an eine bedeutende Anhängerin Jesu gewesen zu sein.
Auch im Zusammenhang mit dem Grab Jesu wird Maria aus Magdala erwähnt, erneut an erster, an exponierter Stelle (Mk 15,47): „Aber Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Joses, sahen, wo er hingelegt war.“ Danach, am Schluss seines Evangeliums erzählt Markus (16,1-8), dass drei Frauen zum Grab gingen, um den Körper des verstorbenen Jesus zu salben: „Und als der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben.“ Auch hier wird Maria aus Magdala wieder als erste genannt. Man wusste anscheinend zu Zeiten des Markus noch, dass sie eine besondere Anhängerin Jesu von Nazareth war. Diesen drei Frauen mit Maria aus Magdala an der Spitze wird die Osterbotschaft verkündet: „Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden.“
Dafür, dass Maria aus Magdala eine Ostervision gehabt hat, gibt es weitere Indizien. So sagt sie nach dem allerdings sehr späten Johannesevangelium zu den Jüngern (20,18): „Ich habe den Herrn gesehen“, was im Neuen Testament eine stehende Formulierung für Ostervisionen ist. Diese Formulierung findet sich so auch bei Paulus im 1. Korintherbrief. Dort zitiert er eine ihm vorliegende Überlieferung und erwähnt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Personen, die „den Herrn gesehen haben“, denen also auf geheimnisvolle Weise eine Ostervision widerfahren ist: „… dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln. Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden.“ Petrus wird in der Aufzählung als erster Osterzeuge genannt, Paulus sieht sich selbst als letzten in der Reihe. Maria aus Magdala wird hier jedoch nicht erwähnt, obwohl die Überlieferung der Evangelien nahelegt, dass auch sie eine Osterzeugin gewesen ist. Vielleicht hat man sie in der Paulus vorliegenden Überlieferung bewusst ausgelassen, da sie eine Frau war, was dann über die Maßen problematisch wäre.
Aus dem 2. Jahrhundert gibt es noch ein apokryphes Evangelium, in dessen Mittelpunkt Maria aus Magdala steht. Neuere Forschungen zu diesem Evangelium haben gezeigt, dass das, was dort erzählt wird, kaum historisch sein kann. Trotzdem ist bemerkenswert, dass Maria aus Magdala in diesem Text bedeutsamer zu sein scheint als die Jünger Jesu, bedeutsamer sogar als Petrus. Das Evangelium enthält also noch die alte Erinnerung, dass Maria eine besonders wichtige Gestalt der Jesusbewegung gewesen ist.
Fasst man einmal die verschiedenen Überlegungen zusammen, zeigt sich, dass Maria aus Magdala eine zentrale Figur in der Jesusbewegung gewesen sein muss. Man hat sie über die Jahrhunderte immer weiter in den Hintergrund gedrängt und insgesamt unterschätzt. So ist es gut, dass die neuere Bibelwissenschaft ihre große Bedeutung wieder herausgearbeitet hat. Wer mehr über Maria aus Magdala wissen möchte, wird in folgendem Buch fündig:
Silke Petersen: Maria aus Magdala. Die Jüngerin, die Jesus liebte, Leipzig 3. Auflage 2019