Es handelte sich nicht um ein Thema, das für mich aus interreligiöser Perspektive ganz obenauf gelegen hätte. Ich hielt es vielmehr für völlig irrelevant. Wenn nicht gerade Lockdown gewesen wäre und ich Rabbi Chaim Sousson, jetzt Frankfurt, früher Düsseldorf, nicht von früher gekannt und geschätzt hätte, hätte ich mir eine Stunde zwanzig Minuten Vortrag über ein derart abwegiges Thema nicht angetan. Aber weil ich Zeit hatte und Abwechslung suchte, habe ich zum Spaß kurz hineingehört, fand es nach fünf oder zehn Minuten spannender als erwartet und habe es mit immer wachsendem Interesse bis zu Ende gehört, gleich zweimal.
Auch ich war im Kindergarten einmal ein Pirat. Für die großen Kinder gibt es jetzt die Filme mit Johnny Depp, die mit der einprägsamen Filmmusik, Hollywood, ganz großes Kino. Aber im Ernst: Jüdische Piraten? Wo hätten die herkommen sollen? Soussan zeigt Grabsteine auf Jamaika, auf denen man neben dem Davidstern und frommer hebräischer Inschrift, wonach der Verstorbene von oben und von unten mit Engeln begleitet werden möge, auch die Piratensymbole des Totenkopfes mit gekreuzten Knochen finden kann. Freibeuter war ein rechtsförmig geregelter Beruf. Freibeuter erhielten einen Kaperbrief, der sie von den Kriegsschiffen, des Landes, in dessen Dienst sie standen, schützte. Gleichzeitig besaßen sie das „Recht“, gegnerische Schiffe freiberuflich auf eigenes Risiko zu überfallen und führten dafür einen gewissen Prozentsatz an „ihre“ Regierung als Prisengeld ab. Die von Soussan behandelten jüdischen Piraten kämpften in der Regel gegen die Spanier, zunächst im Dienste der Niederländer, später der Briten. In den (für die Piraten) besten Zeiten verloren die Spanier die Ladung von etwa einem Schiff pro Woche.
1492 wurde das Judentum in Spanien verboten. Viele spanische Juden versuchten zu fliehen, die verbliebenen wurden zwangsweise getauft, sog. „Conversos“. Die Zwangsgetauften standen auch noch nach mehreren Generationen unter Verdacht, insgeheim Juden geblieben zu sein und im verborgenen ihre Religion weiterhin zu praktizieren, manchmal nicht zu Unrecht, wie sich zeigte, als eine ganze Reihe nach Amsterdam flohen und dort anfingen, ihre Religion erneut zu praktizieren. Die niederländische West-Indien-Compagnie, eine an der Börse gehandelte Aktiengesellschaft, gleichzeitig aber ein staatsnaher Freibeuter-Club, suchte Personal. Einer, der früh anheuerte, Moses Cohen, Taufname Antonio Vahes Henriques, auch Captain Rabbi genannt, gehörte zu den ersten, die diese Chance erfolgreich nutzten und deshalb bald Nachahmer fand. Nachdem er in Spanien als Undercover Agent erfolgreich die Reiseroute und die Ziele der Silberflotte ausspioniert hatte, gelang ihm der große Coup: ein Schiff mit Edelmetallen zu überfallen. Anschließend trug er, reich geworden, wesentlich dazu bei, unter dem niederländischen Feldmarschall Moritz von Nassau die brasilianische Stadt Recife zu erobern, in der zwischen 30 und 40 % der Einwohner „Conversos“ waren und sich nunmehr oft wieder zum Judentum bekannten. Piraten, die zur jüdischen Gemeinde von Recife gehörten, mussten, wie alle anderen Gemeindeglieder auch, 3 Prozent ihres Einkommens an die Gemeindekasse abgeben. Damit waren sie zeitweise integriert. Gleichzeitig erforderte ihr Beruf, ähnlich wie bei den christlichen Kollegen, ethische Kompromisse. Rauben und Töten gehörte in dieser Branche dazu, dennoch legten sie Wert auf koschere Speise, „arbeiteten“ am Schabbat nicht, stachen nicht in See und begannen keine Überfälle. Auch mussten sie ihre inneren Verhältnisse regeln. Von dem etwas jüngeren Bartolomeu Português, auch einem „Converso“, stammt die Urfassung eines Piratenkodexes. Bartolomeu machte das pseudodemokratisch: Der Kapitän und der erste Offizier wurden gewählt, die Beute gleichmäßig verteilt, keine Musik am Schabbat. Bartholomeu kostete die Höhen und Tiefen einer piratischen Karriereleiter voll aus. Mehrmals machte er reiche Beute, konnte sie aber nicht heimbringen, sondern ließ sie sich wieder abnehmen, wurde gefangen genommen und brach wieder aus. Zuletzt verschwand er im Dschungel und ward nicht mehr gesehen.
Für mich als Hamburger war der Pirat meiner Kindheit natürlich Klaus Störtebeker, dessen beim Bau der Speicherstadt gefundener Schädel bis heute im Museum für Hamburgische Geschichte gezeigt wird. Auch wenn historisch-kritisch gesehen nichts dafürspricht, dass es sich wirklich um Störtebekers Schädel handelt, spricht auch nichts dagegen. Daneben gab es noch die ähnlich mythische Gestalt von Cordt Widderich, der im fünfzehnten Jahrhundert die romantische Ruine des Turms der Alten Kirche von Pellworm bewohnte, und in einem plötzlichen Anflug von Frömmigkeit (oder um die dortigen Bürgerrechte zu erwerben?) der Kirche von Büsum das in Pellworm geraubte Taufbecken schenkte, ein wertvoller romanischer Bronzeguss. Ist das Wahrheit, oder handelte es sich um eine nachträgliche Legende, die erklären sollte, wie ein älteres Taufbecken in eine jüngere Kirche gelangen konnte? Es gibt unzählige Piratenlegenden. Die Filme mit Johnny Depp nehmen nicht nur jedes Klischee mit, sondern spielen auch selbstironisch damit.
Die jüdischen Piraten der Karibik sind echte historische Gestalten, von denen es echte historische Dokumente gibt, nicht nur Grabsteine. Sie sind keine Phantasiegestalten, auch wenn natürlich Lücken bleiben. Soussan weiß um die Klischees und unterscheidet historisch Gesichertes und mögliche Legenden. Zwar ist er in Freiburg geboren, aber sein Vater und Großvater stammen aus Fes in Marokko, so dass er für dieses Thema auch geographisch einen anderen Horizont mitbringt als Norddeutsche oder Nordamerikaner. Es lohnt sich, ihm zuzuhören, von Anfang bis Ende. Nebenbei erfahren wir viel über das Judentum im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, über das Ende der Juden in Spanien, über Neuanfänge in Amsterdam, Brasilien, Haiti bis zur Gründung der USA. Soussan selbst präsentiert sich dabei mitten im April 2020 im Lockdown des Frankfurter Schmuddelwetters locker gekleidet in Hemd und Krawatte vor dem Hintergrund einer Videoscreen, auf der eine leicht im Winde wehende Palme und die Wellen des Ozeans zu sehen sind. Spaß muss sein.
Hier der Vortrag von Soussan: https://www.youtube.com/watch?v=9Uo1_DDC79g
„Pirates of the Carribean“, die Filmmusik gespielt von zwei Cello-Piraten https://www.youtube.com/watch?v=Xj3gU3jACe8