Kriegsende Hamburg 1945

von Dr. Uwe Gerrens

Unter den Aufzeichnungen meiner vor meiner Geburt gestorbenen Großmutter Clara Gerrens, geb. Bertram, fand sich folgender Auszug aus ihrem Tagebuch, der die Kapitulation in Hamburg beschreibt. Er soll im Folgenden unkommentiert als Quelle wiedergegeben werden.

30. April: Wir leben seit gestern in Hoffen und Bangen: werden wir nun verteidigt oder nicht? Überall werden Panzersperren gebaut; der Volkssturm ist ausgerückt, nachts kann man nicht schlafen vor Artilleriefeuer, nach xxx [?} schießen sie schon hinein, aber Angriffe haben wir merkwürdigerweise fast 1 Woche nicht u. Kaufmann [Hamburger ‚Gauleiter‘] hat neulich im Radio gesagt, dass er alles zu unserem Besten leiten würde, wir sollten nur Vertrauen haben.

1. Mai: Der 1. Mai wird dies Jahr nur von wenigen Firmen eingehalten, keinem Menschen ist nach Feiern zumute.

2. Mai: In der Stadt werden Flugblätter verteilt, dass wir dass wir offene Stadt werden und Morgen der Feind einrückt. Dann heißt es wieder, dass alles sei Gerücht. Geert [Sohn, 15 Jahre alt] ruft aus Ochsenzoll an und ist sehr ungläubig. Um ½ 9 spricht Kaufmann [‚Gauleiter‘, Radioansprache] zu uns, kurz, markig [?] und hübsch, daß der Krieg verloren ist, daß Harren auf den Widerstand Hamburgs nichts mehr ändern könnte, dass er es unsinnig fände, unsere letzten Häuser vernichten und tausende Volksgenossen töten zu lassen, dass er deshalb Hamburg zur offenen Stadt erklärt hätte und morgen der Feind einrücken würde. So bitter es ist, atmen wir doch auf. Gert ruft noch 1* an, will es gar nicht glauben und hängt kurz den Hörer ein.

3. Mai: Morgens um 8 Uhr Geert vor der Haustüre, in voller Uniform [der ‚Hitler-Jugend‘], mit Affen, Hartbeutel (?) etc., sehr ernst und traurig. Ich bin so froh, daß ich einen wiederhabe und daß die Jungens keine Mannschaften [‚Volkssturm‘] gemacht haben. Seit 11 Uhr muss alles von der Straße sein. Um 12 verabschiedet sich Ahrens im Radio von seinen Hörern mit erstickter Stimme, zum letzten Mal hören wir das Deutschlandlied. Das Radio sendet noch bis 5 Uhr Musik, dann ist Schluss. Hamburg ist eine tote Stadt, man hört nur Fußtruppe, noch keine Panzer.

4. Mai: Wir sind völlig ohne Nachrichten, können nur ausnahmsweise sauber machen, dürfen noch nicht auf die Straße. Telefon ist noch abgesperrt. Man hört und sieht Panzer fahren, in unserer Gegend gottlob nur wenige. Um 6 Uhr schaltet sich Radio ein mit einer englischen Ansprache. Here is Radio Hamburg a station of the alied military gouvernement. Wir dürfen morgen von 9-6 ausgehen und die Läden sind von 10-4 geöffnet.

5. Mai: Alles flutet aus den Häusern heraus und strömt zu den Läden, in denen es aber nichts gibt.

6. Mai: Bevölkerung und Besatzung benehmen sich im Allgemeinen ruhig und ordentlich, kümmern sich kaum umeinander und der Tommy ist nicht herausfordernd. Nur leider werden auch Häuser belegt u. z.T. ganz beschlagnahmt u. die Einwohner müssen innerhalb 2 Stunden räumen, das ist natürlich unendlich bitter, und wir zittern, daß uns das gleiche Schicksal trifft. John Thedens [Freund des Ehemannes], der mit einer Nierensache [?] im Krankenhaus liegt, geht es sehr schlecht und wir haben keinerlei Hoffnung mehr.

7. Mai: Hochbahn, S-Bahn und U-Bahn fahren wieder, Straßenbahnen noch nicht. Um 17 ¾ wird aus dem Krankenhaus angerufen, dass John Thedens gestorben ist. Nachts um 2,41 wird die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet.

8. Mai: Von allen Radiostationen Siegesfeiern, Rede des englischen Königs, ab 12.01 Waffenruhe. Von Claus u. Heinz [Söhne, Soldaten] keinerlei Nachricht. Augusts Leute [Mitarbeiter des Ehemannes im eigenen Unternehmen] kommen wieder: Grau, Frieling, Netert, Geert [Sohn, Lehrling] arbeitet wieder in seiner Firma.

9. Mai: Jeder Berufstätige soll sich seinen Berufsausweis persönlich im Rathaus, Zimmer 300 abholen? Resultat: Tausende von Menschen auf dem Rathausmarkt, bis die Polizei ausrückt und die Massen nach Hause schickt, alles lacht, daß der Tommy nicht organisieren kann. 10. Mai: Himmelfahrtstag u. gesetzlicher Feiertag, wunderbar warmes Wetter. Hbg. ist ruhig wie ein Dorf.

Foto: Dr. Uwe Gerrens/Eingang zu ihrem „Luftschutzkeller“, ca. 50 Jahre später

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