Die meisten Menschen sehen in der Orgel ein Kircheninstrument. Das ist natürlich nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Erfunden wurde sie im dritten vorchristlichen Jahrhundert von einem griechischen Ingenieur in Alexandria. Die Römer übernahmen sie von den Griechen und untermalten ihre Darbietungen in den Zirkusarenen musikalisch. Von einigen wenigen antiken Orgeln haben sich Abbildungen und auch erstaunlicherweise sogar archäologische Funde erhalten, die Rekonstruktionen ermöglichen.
Ihrer Herkunft wegen haben die Christen die Orgel zunächst verachtet. Mit Zirkus wollte man im Gottesdienst nichts zu tun haben. Erst mit dem 9. Jahrhundert fing man im Westen an, sie auch in einigen wenigen großen Bischofskirchen zu benutzen. Über viele Jahrhunderte wurde die Orgel ebenso weiterentwickelt wie die Musik und mauserte sich zu dem nach der menschlichen Stimme wichtigsten kirchenmusikalischen Instrument. Zeitweise wurde sie, abgesehen von kleinen Privatorgeln oder Orgelpositiven, ausschließlich in Kirchen gespielt. Selbst die großen barocken Konzertorgeln der niederländischen Städte, die man bei den Reformierten während des Gottesdienstes nicht spielen durfte, wurden in Kirchen aufgestellt und zu Konzerten genutzt. Als man im neunzehnten Jahrhundert anfing, eigene öffentlich zugängliche Konzertsäle zu errichten, gehörte sehr oft eine eigene Orgel dazu (so auch das inzwischen etwas heruntergekommene Instrument von 1978 in der Düsseldorfer Tonhalle). Für Karneval und Kirmess konstruierte man transportable Freiluftorgeln, bald auch automatisiert mit Lochstreifen. Was heute die Bedudelung mit Musik vom Band beim Shoppen ist, hat seinen Vorläufer in (seltenen) Kaufhausorgeln: „Wanamaker‘s Department Store“ in Philadelphia besitzt ein Instrument von 1904 mit sechs Manualen, das heute als die größte spielbare Orgel der Welt gilt. Viele Kirchenorganisten reißen sich darum, den Einkauf musikalisch untermalen zu dürfen. Als Student in Philadelphia 1985/86 bewunderte ich ihren weichen, romantischen, aber auch umwerfend lauten Klang, der die ganze Halle von sieben Stockwerken durchdrang und noch im letzten Winkel des Kaufhauses Beratungsgespräche verhinderte. Mich hat die Musik vom Einkaufen abgelenkt, kein Nachteil angesichts jenseitiger Preise.
Auch Düsseldorf besitzt einen wenig beachteten Schatz, eine Kinoorgel in der Black Box des Filmmuseums. Kinoorgeln sollten in Stummfilmzeiten das Geschehen auf der Leinwand untermalen und dramatisieren. Das hiesige Exemplar ist gut in Schuss, wird von der Landesregierung als erhaltenswertes technisches Denkmal eingestuft, allerdings nur ganz manchmal bei Stummfilmaufführungen genutzt. Ich lernte es bei einer Veranstaltung im Mai 2011 mit dem Hamburger Organisten Claus Bantzer kennen, den ich für die Stadtakademie für eine Veranstaltung über Filmmusik eingeladen hatte. Bantzer sollte anhand seiner eigenen Musik zum Film „Kirschblüten – Hanami“ auf dem Klavier erläutern, wie man Filmmusik komponiert, Sekundengenau zu fertigen Filmen, und welch unterschiedliche Stimmungslagen möglich sind, wenn man ein und dasselbe Filmmaterial mit unterschiedlicher Musik unterlegt. Als er sich nachmittags ans Klavier setzte, entpuppte sich das Instrument als ziemliche Klimperkiste, noch dazu total verstimmt. Ich versank vor Scham im Boden. Doch Bantzer sah die Kinoorgel, bekam leuchtende Augen, und der Abend war gerettet. Die Veranstaltung wurde auf der Kinoorgel besser als sie es mit einem Konzertflügel geworden wäre.
Das Düsseldorfer Instrument stammt aus dem Jahr 1928, der auslaufenden Stummfilmzeit. Es bietet auf zwei Manualen Register, die sofort an Kinomusik denken lassen, ein eigener Sound. Spezielle Effekte wie Schiffsirenen, Telefonklingeln, Eisenbahngeräusche und Lokomotivenpfiff, Wassergeräusche, Sturm und Gewitterdonner, Vogelgesang, Glocken, Trommeln, Kastagnetten, Schlittenschellen, Tamburin, Becken und Pauke. Um das zu spielen, müssen sich die Organistenfüße nicht nur mit den allgemein üblichen Pedalen und Walzen beschäftigen, sondern daneben weitere Knöpfe, Hebel und Treter finden. Noch mehr Schalter sind oben am Spieltisch angebracht, die die damaligen Möglichkeiten einer elektro-pneumatischen Ansteuerung eindrucksvoll aufzeigen. Imponiergehabe war wohl auch dabei; jedenfalls ist es den Orgelbauern gelungen, aus nur acht Reihen Orgelpfeifen erstaunlich viele Register mit noch mehr Schaltern zu machen. Der elektrisch betriebene Ventilator von 3 PS Stärke betreibt mehrere Hochdruckregister, die einen schärferen Ton als Barockorgeln erzeugen, aber leise bleiben. Kinomusik ist Begleitmusik, kein Solokonzert. Es klingt anders als in der Kirche und bleibt doch eine Orgel.
Während des Corona-Lockdowns habe ich manchmal youtube geguckt. Zufällig entdeckte ich Fraser Gartshore, Organist an St. Anna in Herschbach (im Westerwald), der auf eigenem Kanal etwa einmal die Woche in eine Orgel einführt und dabei ihre jeweiligen Eigenheiten erklärt. Diesem an sich eher spröden Thema widmet sich der gebürtige Schotte mit viel Humor, so dass wir nicht nur erfahren, was eine Schleiflade ist, wie man eine Orgel stimmt oder was eine Schwebung ist, sondern auch, dass manch Orgelkasten Platz für ein ganzes Bett bietet, wie mechanische Orgeln beim Absaufen jaulen, oder wie der Kantor mit einer ihm unbekannten Person vierhändig Boogie-Woogie improvisierte, die sich später als Karl-Heinz Stockhausen entpuppte, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten klassischer Musik. Jeder kann die Toccata und Fuge in d-moll von Bach spielen, sagt Fraser Gartshore, aber kann er es selbst es auch noch, ganz ohne zu üben? „Ich probiere mal“, sagt er, spielt es und stellt es ins Netz.
Mir kam die Idee, ihn mit der Düsseldorfer Kino-Orgel zusammenzubringen. Normalerweise läuft in der Black Box ein Film nach dem anderen, was die Möglichkeiten zum Musizieren stark einschränkt. Doch ist sie jetzt mindestens bis Ende August diesen Jahres wegen Corona für den Publikumsverkehr geschlossen. Ich schrieb ihm eine E-Mail und schlug ihm vor, er solle sich die Kinoorgel ansehen. Sie gehöre zwar nicht der Kirche, sondern dem Filmmuseum der Stadt Düsseldorf, aber das seien nette Leute, die würden sich bestimmt freuen, wenn er dort anfragte, ob er vorbeikommen dürfe.
Meine Idee war etwas kühn, aber überraschenderweise hat er angebissen und das Kino-Museum auch. Es ist keine Stadtakademieveranstaltung geworden, es gibt keine Ankündigung in unserem Programm, keinen Zutritt und keine Eintrittsgebühren, aber das Video ist auf Youtube zugänglich. Fraser Gartshore spielt nicht nur, sondern führt auch in den Spieltisch ein und zeigt Pfeifen und Effekte hinter dem Vorhang im Orgelkasten. Man sieht, wie das Geräusch von Regenschauern durch fallende Erbsen simuliert oder der Theaterdonner durch wackelndes Blech erzeugt wird. Auch die Erzeugung von Sturmwindgeräuschen ist allerliebst anzuschauen und klingt auch erstaunlich dramatisch. Was man bei Stummfilmaufführungen nicht sehen kann, weil man vom Film abgelenkt wird, kann man endlich beim Blick hinter die Kulissen bewundern.
In die Blackbox kann man zur Zeit noch nicht gehen. Dafür gibt es Kinoorgel am heimischen PC. Ausnahmsweise hat der Lockdown etwas Gutes bewirkt. Viel Spaß beim Hören und Sehen! Tschingdarassabum!
https://www.youtube.com/watch?v=6SPxKiV3J1Q
Mehr Informationen zu unserem neuen Programm finden Sie unter www.estadus.info
Ein hoch interessanter Artikel, lieber Herr Gerrens, danke!