Was man zum Leben braucht, das muss man hören – man kann es sich nicht selber sagen. So, wie in den Kommentaren zu diesem Blog, kommen ermutigende und stärkende, tröstende und befähigende Worte von anderen. Und sie tun gut. Und neben den Worten der Mitmenschen, die einen kennen gibt es auch die Worte und Zusprüche, die in den Religionen bewahrt werden. Was lebendige Religionen, gelebte Religion ausmacht, ist die große Vielfalt an Zusprüchen. Die müssen nicht in ein System passen, oft sind sie sogar widersprüchlich. Ihre Stärke aber ist, dass sie durch viele Generationen an Menschen bewährt sind. Die Religion, aus der ich meine Zusprüche habe, ist das protestantische Christentum – andere haben andere. Meine Glaubenssätze in dieser Zeit möchte ich teilen, weil sie vielleicht andere anregen, ihre zu suchen.
Glaubenssätze
Die Welt ist GOttes gute Schöpfung – und ich in ihr.
Als Geschöpf GOttes bin ich gewollt und darum ist mein Leben sinnvoll. Ich selbst erfahre diese Welt und mein Leben als ambivalent: Neben dem Schönen, Beglückenden, Erfreulichen und Genussvollen gibt es Schmerzhaftes, Unvollkommenes, Versagtes und Trauriges. Auch mich selber kann ich nur selten als heil und ganz erleben. Der Theologe Hennig Luther brachte es auf dem Punkt: Leben als Fragment.
Bin ich aber als chronisch kranker Mensch auch „gute Schöpfung“, so ist auch mein beschädigtes Leben von GOtt gewolltes Leben – wertvolles und sinnvolles Leben. Im Glauben / Vertrauen auf GOtt stellt mich das vor die Aufgabe, nach diesem Sinn zu suchen – wenn ich es nicht einfach annehmen kann, von GOtt geliebt zu sein. (Das sagt nicht, dass GOtt will, dass ich krank bin, sondern dass er mich will – auch mit meiner Krankheit!)
Auch mein beschädigtes Leben trägt zur Fülle der Schöpfung bei, die GOtt ins Leben ruft und im Leben will.
Im Leben in seiner Ambivalenz ist GOtt gegenwärtig.
Denen, die mit der Gegenwart GOttes in ihrem Leben rechnen, wird sie in Glück, Freude, Genuss und Erfolg unverstellt erfahrbar. GOtt macht das Leben schön, segnet es. Das führt zu Dank und Lob. (Denjenigen, die ohne Gott leben, also mit seiner Gegenwart nicht rechnen, können die „guten Seiten des Lebens“ als Sehnsucht, als Anrecht oder gar als Selbstverständlich erscheinen. Das Glück ist aber nicht der Normalfall, es ist die Ausnahme. Daher kommt es dann leicht zu Frustration, Neid, Ressentiment – wie wünschte ich, davon frei zu sein, bin es aber nicht.)
Die Gegenwart GOttes auch im Schmerz, Leid, in Krankheit oder gar Angesichts des Todes zu erfahren, ist dagegen schwer. GOttes Gegenwart drückt sich nicht in der Abwesenheit des Schmerzes aus, sondern darin, dass der Schmerz, das Leid gelindert werden. Deshalb erzählen die biblischen Geschichten davon, dass Kranke geheilt, Dämonen ausgetrieben, Schuld und Sünden vergeben werden. Diese Geschichten führen die Gegenwart GOttes auch in Leid und Lebenswidrigkeit vor, damit wir mit ihnen GOttes Gegenwart auch in unserem Alltag entdecken lernen. Auch das leidende Leben ist angenommenes und begleitetes Leben.
So wenig versprochen ist, dass das Leben immer schön und ohne Leid sei – die Zusage bleibt, dass jedes Leben von GOtt begleitet ist, auch dann, wenn sich diese Begleitung im Lebenswidrigen ereignet. Die Gegenwart Gottes auch dort zu entdecken, bleibt eine Aufgabe für diejenigen, die mit GOtt rechnen. Nicht immer bin ich dieser Aufgabe gewachsen.
Ich erfahren die Fülle des Lebens durch die Gaben GOttes in mir und um mich herum, auch in meinen Grenzen.
Die Fülle des Lebens und der Schöpfung besteht nicht darin, dass alle alles haben oder können. (Was der Virus kann, können wir Menschen nicht – aber auch umgekehrt…) Die Fülle der Schöpfung besteht in der Vielfalt des Verschiedenen und in der Zuordnung, dem Ins-Verhältnis-setzen dieser Verschiedenheit zueinander. Die Vielfalt kommt zum einen über die leibliche Vielfalt zustande, zum anderen aber durch den Umgang mit der Leiblichkeit im Geist. Leib und Geist der Menschen sind gute Schöpfung – und frei, d.h. unverfügbar. Welchen Leib ich habe, ist unverfügbar; welche geistigen Fähigkeiten ich habe, ist unverfügbar – für mich. Wie ich aber mit den mir unverfügbaren Gegebenheiten des Leibes und des Geistes umgehe und darin die Fülle meines Lebens erfahren kann, verdanke ich den Gaben, die GOtt in mich legt: Kreativität, Vernunft, Liebe, Neugier, Mut, Beharrlichkeit, Wahrnehmung, Erinnerung und vieles mehr – Fähigkeiten, mit denen Menschen Leben und Welt gestalten.
Es sind diese Gaben der Fülle, die mich meine Möglichkeiten zur Lebensgestaltung entdecken lassen und die uns allen erlauben, das Leben anzunehmen und zu gestalten. Wissenschaft, Technik, Produktion, Kunst usw. sind Ergebnisse und Ausdrucksmöglichkeiten der vielerlei guten Gaben GOttes. Und in diesen Ausdrucksmöglichkeiten ist GOtt gegenwärtig, weil wir darin unseren Sinn entdecken können.
Auch wo meine Krankheit mein Leben begrenzt, wo Schmerz mich hindert, wo Leid zu ertragen ist, kann sich die Fülle des Lebens zeigen – wenn ich Wege finde in diesen Grenzen zu leben (auch und gerade mit der Hilfe anderer). Medizin, Technik, Solidarität können die Grenzen des Lebens ändern und Möglichkeiten eröffnen. Eigene Geisteshaltung, Wertvorstellungen und Erfahrungen können mein beschädigtes Leben ein erfülltes Leben sein lassen. Diese Gaben und die Lebensfülle zu entdecken, ist eine Aufgabe für diejenigen, die die eigene Andersartigkeit nicht als Ausdruck von GOttes Zuwendung annehmen können – so wie ich oft.
Ich schreibe diese Glaubenssätze nicht als Belehrung für andere, ich schreibe sie als Erinnerung für mich. Ich schreibe sie als Zusagen, die aus meiner Religion kommen und mich daran erinnern sollen, dass das beschädigte Leben wertvoll ist. Ich schreibe sie auf, weil ich mich auf den Weg machen sollte, auch in den Zuständen der „Corona-Krise“ nach dem Wert des Lebens zu suchen. Es ist nicht nur die Zeit der Beschwernis und des Verlustes, es auch die Zeit der Neuentdeckungen – glaub‘ ich…