39 Jahre alt ist er, als er am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg erhängt wird. Als er den Weg zum Galgen geht – die Konsequenz seiner Beteiligung am Widerstand gegen Hitler rund um den 20. Juli 1944 – ahnt Bonhoeffer wohl nicht, was in den nächsten Jahrzehnten mit seinem Namen alles gemacht werden sollte.
Auf der einen Seite wurde er vor allem bis 1970 diffamiert als „vaterlandsloser Geselle“, weil man sich nicht an einem Attentat gegen ein gewähltes (!) Staatsoberhaupt beteiligt.Auf der anderen Seite wurde er später quasi zum Säulenheiligen der evangelischen Kirchen. Oft ersetzte das Raunen seines Namens ein ernsthaftes Argument. Wie kommt das?
Bonhoeffer ist einer jener Christen, an denen man nicht so recht vorbeikommt, wenn man sich der Frage widmet: was das eigentlich „heute“ heißen könnte: Christ sein. Immer und immer wieder habe ich es erlebt: Man fragt Menschen, junge und alte, wie sie zum christlichen Glauben gekommen sind. Dann werden Vorbilder genannt. Vorbilder, die eine Glaubwürdigkeit ausgestrahlt haben. Das können Familienmitglieder sein. Das kann der Konfirmationspfarrer sein. Das kann die Jugendmitarbeiterin sein.
Wenn ein Mensch genannt wird, der nicht aus dem unmittelbaren Umfeld des Befragten stammt, dann ist es nach meiner Schätzung in über 80 % der Fälle der Name Dietrich Bonhoeffer der genannt wird. Er gilt als glaubwürdig. Weil er bereit war, das Beharren auf seinem Glauben mit dem Leben zu bezahlen.
Ein Held?
Ein Märtyrer?
„Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“
Und armselig eine Kirche, die meint, im Schatten eines Märtyrerdenkmals gemütlich stimmungsvolle Lieder singen zu können.
Dietrich Bonhoeffer?
Ja. Immer gerne.
Aber bitte darum, weil er sich mit anderen und für andere den Fragen der Zeit gestellt hat. Weil er so bescheiden war, dass es nach Arroganz aussah. Aber bitte nicht, weil er etwas geschafft hat, was nicht so schwierig ist: die wirklich Gerechten finden immer leicht jemanden, der Ihnen Gewalt antun will.
Bonhoeffer war ein bescheidener, ein demütiger Mensch. Seine Theologie ist so großartig, weil er weiß, was es mit uns Menschen auf sich hat. Am 1. Februar 1933, zwei Tage nach der sogenannten „Machtergreifung“ der Nazis, hält er im Radio eine Ansprache über das Führerprinzip und erläutert, wie schnell Führer zu Verführern werden. Noch während der Übertragung wird der Vortrag abgebrochen.Und am Ende desselben Monats Februar 1933 hält der junge Privatdozent Bonhoeffer dann zum Abschluss des Semesters in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin eine Predigt über Gideon. Dessen Geschichte aus den Kapiteln 6-8 des Buches der Richter wird zur Grundlage einer Anti-Heroen-Predigt. Eine Anti-Bescheidwisser-Predigt ist es. Eine Predigt vom Wissen durchdrungen, dass Demut die Haltung des Gläubigen ist. Eine Predigt, die Menschen, die sich verstecken wollten hinter der eigenen Angst oder hinter irgendwelchen Heldengestalten, wachrütteln wollte und konnte.
Bonhoeffer interpretiert den Text als „eine leidenschaftliche Geschichte vom Spotten Gottes über alle Ängstlichen und Kleingläubigen, alle allzu Vorsichtigen, Besorgten, über alle, die vor Gott etwas sein wollen und doch nichts sind, eine Geschichte vom Spotten Gottes über des Menschen Macht, eine Geschichte vom Zweifel und vom Glauben an diesen des Menschen spottenden und ihn in diesem Spott gewinnenden, liebenden Gott.Also keine erhebende Heldenlegende – Gideon ist kein Siegfried – sondern eine recht grobe, derbe, unerbauliche Geschichte, in der wir alle kräftig mitverspottet werden – und wer ließe sich gern verspotten, wer wüsste etwas Demütigenderes als sich vom Herrn der Welt von Grund auf auslachen zu lassen? Von dem im Himmel des menschlichen Getümmels und Getriebes spottenden Gott, von dem Lachen Gottes über sein eitles Geschöpf redet die Bibel manchesmal.
Es ist der Gewaltige, der Souverän, der unvergleichlich starke, der lebendige Herr, der hier so mit seinem Geschöpf umgeht. Vor ihm, der alle Macht in den Händen hat, vor ihm, der spricht so geschiehts, der atmet und die Welt lebt und der seinen Odem einzieht und die Welt vergeht, vor ihm, der Völker zerschmeißt wie Töpfergeschirr, vor ihm ist der Mensch kein Heros, kein Held, sondern ein Geschöpf, das seinen Willen tun muß, das ihm gehorchen muß, das er mit Spott und Liebe gewaltig in seinen Dienst zwingt. Also darum Gideon und nicht Siegfried, weil dieser von Gott verspottete Zweifler unter derben Schlägen glauben gelernt hat.“
Das ist die doppelte Perspektive bei Bonhoeffer: Glauben ist etwas Konkretes, das einem konkreten Menschen geschieht. Darum tut Theologie gut daran, nicht in metaphysischen (oder gar moralischen) Floskeln zu agieren, sondern in biografischen Szenarien. Und zugleich darf das Betrachten des Konkreten nicht dazu verleiten, auf eigene Konkretionen zu verzichten.
„Darum Gideon, weil wir nicht immer so abstrakt, so weltfern, so unwirklich, so allgemein vom Glauben reden wollen, daß man es wohl gern anhört, aber eigentlich doch keine rechte Notiz davon nimmt, sondern weil es gut ist, wenn wir einmal etwas vom Glauben wirklich zu sehen bekommen, wenn wir nicht nur hören, was er sein soll, sondern sehen, was er ist, wie er mitten in einem Leben, in der Geschichte eines Menschen einfach geschieht. Hier allein wird der Glaube für jeden aus einem Kinderspiel zu einer allerhöchst bedrohlichen, ja Furcht und Schrecken erregenden Sache.“
Dies war offenkundig eine Predigt, die Anfang 1933 weder den politischen Machthabern gefallen konnte, noch denjenigen, die meinten, sich mit „ihrer“ Kirche unter den Schutz des Staates stellen zu können. Und wer im Nachhinein natürlich immer klüger sein möchte, mag hier erkennen, dass die Hinrichtung Bonhoeffers zwölf Jahre später letztlich eine absehbare Konsequenz war.Rund um den 75. Jahrestag dieses Ereignisses waren zahlreiche Gedenkveranstaltungen angekündigt, die wegen der bekannten Umstände abgesagt oder verschoben wurden.
Vielleicht ist uns damit einiges an Bonhoeffer-Geraune erspart geblieben. Vielleicht sind damit ein paar kleine weitere Schritte möglich geworden weg von der Heldenverehrung und hin zu einer Würdigung seiner Theologie. Und wer Jahrestage oder andere Anlässe braucht, um sich mit Bonhoeffer zu beschäftigen, wird nicht lange suchen müssen. Zum Beispiel ist es in diesen Tagen genau 80 Jahre her, dass er am 22. August 1940 „wegen seiner volkszersetzenden Tätigkeit“ Redeverbot „für das gesamte Reichsgebiet“ erhielt. Das ist wiederum eine Konsequenz seiner Haltung. Das ist aber eben auch eine Auszeichnung für das Beziehen einer deutlichen Position.
Von meiner Kirche wünsche ich mir heute manchmal Ähnliches. So sehr vor Ort, in den Gemeinden und Einrichtungen häufig Großartiges geleistet wird, so sehr entsteht der Eindruck, dass auf kirchenleitenden Ebenen so etwas wie diplomatische Reflexe vorherrschen.
Wie schön wäre es doch, wenn nicht zu Jubiläen mit großer Würdenträger-Inbrunst „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ gesungen, sondern stattdessen von Bonhoeffer-Texten inspiriert ein Blick in die gegenwärtige Realität gesucht würde.
Bonhoeffers Lebensweg ist über große Strecken eine Auszeichnung für das Beziehen einer deutlichen Position. Es ist gut, wenn es glaubwürdige Christen mit großer Strahlkraft gibt. Sie sollten aber Ermutigung sein und kein Ersatz für eine eigene Haltung. Von meiner Kirche wünsche ich mir heute manchmal, dass sie für das Beziehen einer deutlichen Position auch etwas riskiert. Und das in voller Freude darüber, dass Redeverbote heute in unserem Staat nicht mehr ausgesprochen werden. Intensiver als die Freude darüber ist zuweilen aber eine Sorge: wenn kirchliche Verlautbarungen einfach dem moralischen Zeitgeist ein wenig hinterher trollen, wen sollte es stören? Wer sollte ein Interesse daran haben, eine harmlose Kirche durch ein Redeverbot auszuzeichnen?